23. August 1939
Der Hitler-Stalin-Pakt
Von Georg Friebe
Am 23. August jährt sich der Abschluss eines Vertrages zwischen den Führern der beiden totalitären Staaten Europas im 20. Jahrhundert: des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts zwischen Hitler und Stalin, wie der offizielle Titel des veröffentlichten Teils des Abkommens hieß.
Unter Verschluss blieb dagegen eine zusätzliche Vereinbarung - ein "Geheimes Zusatzprotokoll". Diese Zusatzvereinbarung enthielt nichts weniger als eine Aufteilung Ostmitteleuropas - Polens, der baltischen Staaten und Bessarabiens - in eine deutsche und eine sowjetische Interessenssphäre. Modifiziert durch einen "Freundschaftsvertrag" vom 28. September desselben Jahres, gehörten nach diesem "Zusatzprotokoll" Finnland, das Baltikum sowie Bessarabien zum sowjetischen Bereich; in Polen verlief die Grenze der beiden Sphären entlang der Narew-Bug-San-Linie.
Die entscheidende Bedeutung dieses Paktes liegt darin, dass er die Voraussetzung für den Überfall Hitlers auf Polen und - da Premierminister Chamberlain am 31. März 1939 eine britisch-französische Garantieerklärung für Polen abgegeben hatte - den Ausbruch des II. Weltkrieges bildete.
Der Pakt vom 23. August 1939 hatte Hitler dazu ermutigt, Polen anzugreifen und als Folge hiervon, wie erwartet, einen europäischen Krieg entstehen zu lassen, an dem die Sowjetunion vom 17. September 1939 an als Aggressor teilnahm, ohne dass sie damit freilich die Kriegserklärung der Westmächte auf sich gezogen hätte.
Hoffmann, Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945, 27.
Die höchst interessante Frage ist: Warum gab Stalin, der die Konsequenzen seiner Entscheidung genau kannte, Hitler mit dieser Vereinbarung "grünes Licht" für sein Vorgehen gegen Polen?
Seit dem Frühjahr 1939 führten englische und französische Militärdelegationen mit der sowjetischen Seite Verhandlungen, da Stalin einen britisch-französisch-sowjetischen Dreibund in Aussicht gestellt hatte. Zur gleichen Zeit bemühte sich der sowjetische Botschafter in Berlin um eine Annäherung an Deutschland. Die Ablösung des jüdischen Außenministers der Sowjetunion Litwinow durch Molotow am 3. Mai signalisierte das Ende von Stalins Doppelspiel zugunsten eines Zusammengehens mit Hitler. Zwar kam es am 24. Juli noch zu einem Beistandsvertrag zwischen Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion. Er trat aber nicht mehr in Kraft, weil Stalin Durchmarschrechte durch Polen und Rumänien verlangte, die ihm die Westmächte nicht ohne die Zustimmung der betroffenen Staaten zusichern konnten, und weil Hitler sein Angebot erhöhte. Bis zuletzt also hielt sich der sowjetische Diktator die Option offen für die Seite, die ihm das meiste anzubieten hatte.
Stalins Berechnungen beim Abschluss des Paktes mit Hitler reichten indes weit über den unmittelbaren Gewinn der ihm im Zusatzprotokoll zugestandenen ostmitteleuropäischen Gebiete hinaus. Auf einer Geheimsitzung des Politbüros der KPdSU am 19. August 1939, an der auch Mitglieder der sowjetischen Sektion der Komintern teilnahmen, legte Stalin sein Kalkül dar:
Krieg oder Frieden: diese Frage ist nun in ihre kritische Phase eingetreten. Ihre Lösung hängt vollkommen von der Stellungnahme ab, die von der Sowjetunion eingenommen werden wird. Wir sind absolut überzeugt, dass Deutschland, wenn wir einen Bündnisvertrag mit Frankreich und Großbritannien abschließen, sich gezwungen sehen wird, vor Polen zurückzuweichen und einen Modus vivendi mit den Westmächten zu suchen. Auf diese Weise könnte der Krieg vermieden werden, und die anschließende Entwicklung wird bei diesem Zustand der Dinge einen für uns gefährlichen Charakter annehmen.
Auf der anderen Seite wird Deutschland, wenn wir das euch bekannte Angebot Deutschlands eines Nichtangriffspaktes annehmen, sicher Polen angreifen, und die Intervention Frankreichs und Englands in diesem Krieg wird unvermeidlich werden. Unter solchen Umständen werden wir viel Chancen haben, außerhalb des Konfliktes zu bleiben, und wir können mit Vorteil abwarten, bis die Reihe an uns ist. Das ist genau das, was unser Interesse erfordert. Daher ist unsere Entscheidung klar.
Wir müssen das deutsche Angebot annehmen und die französisch-englische Mission mit einer höflichen Ablehnung in ihre Länder zurückschicken.
Ich wiederhole, dass es in eurem Interesse ist, wenn der Krieg zwischen dem Reich und dem anglo-französischen Block ausbricht. Es ist wesentlich für uns, dass der Krieg so lange als möglich dauert, damit die beiden Gruppen sich erschöpfen. Aus diesem Grunde müssen wir den von Deutschland vorgeschlagenen Pakt annehmen und darauf hinarbeiten, dass der Krieg, wenn er einmal erklärt ist, solange als möglich dauert. In der Zwischenzeit müssen wir die politische Arbeit in den kriegführenden Ländern intensivieren, damit wir gut vorbereitet sind, wenn der Krieg sein Ende nehmen wird.
Zitat Stalin, in: Freund, Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Dokumenten, 159 f.
Diese Überlegungen Stalins resultierten keineswegs nur aus den besonderen Umständen des Jahres 1939, sondern entsprachen einer uranfänglichen bolschewistischen Strategie. In einer Rede, die er am 6. Dezember 1920 hielt, erklärte Lenin, dass die Gegensätze und Widersprüche unter den kapitalistischen Staaten ausgenutzt und sie aufeinandergehetzt werden müssten; "denn wenn zwei Diebe sich streiten, ist der Ehrliche der lachende Dritte. Sobald wir stark genug sind, den gesamten Kapitalismus niederzuwerfen, werden wir ihn sofort an der Gurgel packen."
Und Stalin erklärte im Juli 1925 ganz im Sinne dieses Leninschen Grundsatzes vor dem Zentralkomitee der Allunionskommunistischen Partei: "Sollte der Krieg beginnen, so werden wir nicht untätig bleiben - wir werden auftreten, aber wir werden als letzte auftreten. Und wir werden das entscheidende Gewicht in die Waagschale werfen, ein Gewicht, das ausschlaggebend sein dürfte."
Die Absicht, "das faschistische Deutschland und den Westen aufeinanderzuhetzen", wurde offenbar geradezu zu einer "fixen Idee" Stalins (Vgl. Daschitschew: Der Pakt der beiden Banditen).
Auch wenn sich Stalins weitgespannter Plan, durch den Krieg das "sozialistische Territorium" auf ganz Europa und Asien ausdehnen zu können, nicht realisieren ließ, so trug ihm der "Teufelspakt" mit Hitler (Sebastian Haffner) eine reiche Ernte ein. Am 17. September, nachdem die polnische Armee durch die Deutschen zerschlagen worden war, begann der sowjetische Einmarsch in Ostpolen. Molotow, der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, kommentierte die Niederwerfung Polens am 31. Oktober 1939 vor dem Obersten Sowjet so: "Ein einziger Schlag gegen Polen, erst seitens der deutschen, dann seitens der Roten Armee, und nichts blieb übrig von dieser Missgeburt des Versailler Vertrages, die ihre Existenz der Unterdrückung nichtpolnischer Nationalitäten verdankt hatte." (Vgl. Sikorski, Polish-Soviet Relations, 65)
Durch die Angriffskriege gegen Polen und Finnland, durch die erpresserische Annexion der souveränen Republiken Estland, Lettland und Litauen und die Androhung des Krieges gegen Rumänien vermochte die Sowjetunion im Gefolge der Verträge mit Hitler ihr Gebiet um ein Territorium zu vergrößern, das mit 426.000 qkm etwa der Ausdehnung des Deutschen Reiches von 1919 entsprach.
Hoffmann, Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945, S. 27.
Die Westmächte ahndeten diese Okkupationen und Annexionen Stalins nicht durch eine Kriegserklärung. Nach dem Beginn des Krieges zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurde Stalin nicht nur deren Verbündeter; auf den alliierten Kriegskonferenzen von Teheran bis Potsdam bekam er alle seine Eroberungen aus der Kumpanei mit Hitler zuerkannt, darüber hinaus freie Hand in den von der Roten Armee besetzten Gebieten und in seiner deutschen Besatzungszone.
Über diese okkupierten Territorien erklärte Stalin 1945 gegenüber dem jugoslawischen Partisanenführer Milovan Djilas (1911-1995): "Wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, soweit seine Armeen kommen. Es kann gar nicht anders sein."
Quellen und weiterführende Hinweise
- Daschitschew, Wjatscheslaw: Der Pakt der beiden Banditen. Die Stalinismus-Bewegung in der Sowjetunion hat jetzt ein letztes Tabu erreicht: Den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939. In: Rheinischer Merkur, 1989, Nr. 16, vom 21.04.1989, S. 3f[zitiert: Daschitschew: Der Pakt der beiden Banditen]
- Freund, Michael: Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Dokumenten. Bd. III, Nr. 55[zitiert: Freund, Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Dokumenten]
- Hoffmann, Joachim: Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945, 8. Aufl, München 2001[zitiert: Hoffmann, Stalins Vernichtungskrieg 1941-1945]
- General Sikorski Historical Institute (Hg.): Documents on Polish-Soviet Relations. 2 Bde. London, Bd. 1, Dok. Nr. 66, 1961/1967[zitiert: Sikorski, Polish-Soviet Relations]