Die Nichtumsetzung der Potsdamer Beschlüsse

  1. Deutsche Einheit
  2. Reparationen
  3. Demokratie
  4. Humaner und geordneter Transfer
  5. Deutsche Ostgebiete
  6. Quellen und weiterführende Hinweise

1. Deutsche Einheit

Nach Ian King sollte die Teilung Deutschlands in Besatzungszonen nur eine vorläufige administrative Maßnahme sein, damit das Land überhaupt regiert werden konnte.
Die Potsdamer Erklärungen sollten u. a. der Beibehaltung der deutschen Einheit (King, Potsdam, 395) dienen. Z. B. beschlossen die Alliierten in Artikel III Teil A ("Politische Grundsätze"):

Bis auf weiteres wird keine zentrale deutsche Regierung errichtet werden. Jedoch werden einige wichtige zentrale deutsche Verwaltungsabteilungen errichtet werden, an deren Spitze Staatssekretäre stehen, und zwar auf den Gebieten des Finanzwesens, des Transportwesens, des Verkehrswesens, des Außenhandels und der Industrie. Diese Abteilungen werden unter der Leitung des Kontrollrates tätig sein.Potsdamer Protokoll: Artikel III Teil A "Politische Grundsätze" 9 Absatz IV

Dieser Beschluss wurde genauso wenig umgesetzt wie Teil B "Wirtschaftliche Grundsätze" unter selbem Artikel: Während der Besatzungszeit ist Deutschland als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten.

Ian King sieht die Ursache für das Dilemma der Nicht-Umsetzung wesentlicher Konferenzergebnisse u. a. darin, dass Frankreich trotz Bemühens keine Einladung zur Potsdamer Konferenz erhielt. Die Konsequenz daraus war, dass sich Frankreich als Besatzungsmacht in Deutschland nicht an die Potsdamer Entscheidungen gebunden fühlte.
So kapselte Frankreich seine Zone von den anderen ab, was seinen Ausdruck z. B. auch in der verweigerten Aufnahme von Flüchtlingen fand. (Vgl. King, Potsdam, 395)

Nichtsdestotrotz war es 1945-46 ohne Zweifel Frankreich, das als erster gegen die Potsdamer Bestimmungen verstieß und die Einheit Deutschlands verhinderte.King, Potsdam, 395f.

2. Reparationen

Beim Reparationen-Thema gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Frankreich und Russland. Beide waren Opfer gravierender deutscher Invasionen gewesen, wobei die Zerstörungen in Russland horrender waren und die Russen mehr verbittern mussten. Beide Besatzungsmächte setzten sich über die Reparationsregelungen von Potsdam hinweg und beuteten ihre Zonen rücksichtslos aus. Das veranlasste die Amerikaner, die aus ihrer Zone beschlossenen Lieferungen an die Russen einzustellen. (Vgl. Artikel IV "Reparationen aus Deutschland", Absatz 4)

Siehe auch Punkt 5. Deutsche Ostgebiete

3. Demokratie

Am wichtigsten waren dabei die Kontroversen über die unterschiedliche Auslegung der in Potsdam verabredeten Demokratisierung in den jeweiligen Besatzungszonen und über den sich ab Herbst 1946 abzeichnenden Aufbau eines separaten Weststaates.King, Potsdam, 396.

Im Westen verstand man unter Demokratie verschiedene Parteien, die in freien Wahlen mit unterschiedlichen Programmen um die Gunst der Wähler konkurrierten. Desweiteren Gewaltentrennung, Versammlungs- und Redefreiheit.
Im Osten herrschte der Marxismus-Leninismus. Walter Ulbricht schärfte seinen Leuten bei der Organisation der DDR ein: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben. (King, Potsdam, 397.)
Diese zynische Manipulation der im Potsdamer Protokoll versprochenen Demokratisierung entsprach einer berühmten Äußerung Stalins gegenüber jugoslawischen Kommunisten im Frühjahr 1945 und macht auch hier deutlich, wie wenig ernst die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz genommen wurden:

Wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armee vordringen kann.Stalin (King, Potsdam, 398.)

Den Ausführungen Ian Kings sind noch anschließende Gesichtspunkte hinzuzufügen. Auch sie unterstreichen die definitive Nicht-Umsetzung der Potsdamer Beschlüsse.

4. Humaner und geordneter Transfer

In Artikel XIII. ("Ordnungsmäßige Überführung deutscher Bevölkerungsteile") forderten die Alliierten eine humane und geordneten Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland.

Die Realität der wilden Vertreibung der Deutschen mit ca. 2 Mio. Todesopfern sah bekanntlich ganz anders aus.

Wahrscheinlich kam eine Million im Verlauf der Evakuierungen durch die Wehrmacht und während der Flucht in den letzten Kriegsmonaten um. Die übrigen, meistens Frauen, Kinder und alte Leute, fielen den schonungslosen Methode der Vertreibung zum Opfer.De Zayas, Nemesis, 158.

Prof. de Zayas unterscheidet drei Phasen der Vertreibung der Deutschen: Eine Phase vor der Potsdamer Konferenz und zwei Phasen nach der Potsdamer Konferenz.

Erste und zweite Phase der Vertreibung

Die Vertreibungen der ersten Phase werden für gewöhnlich als "wilde" Vertreibungen bezeichnet, die von Polen und der Tschechoslowakei ohne westliche Zustimmung durchgeführt wurden. Ermuntert von der Sowjetunion wurden diese Vertreibungen mit großem Tempo vollzogen, um die Konferenz in Potsdam vor vollendete Tatsachen zu stellen.

...doch die Aufgabe, so viele Menschen in Bewegung zu setzen, ließ sich so schnell nicht durchführen, so dass das Problem der Umsiedlung von Millionen Gegenstand der Verhandlungen in Potsdam werden musste.De Zayas, Nemesis, 158.

Die Potsdamer Konferenz hatte in Artikel XIII eine Unterbrechung der Umsiedlungen verlangt, um sie unter die Aufsicht des Alliierten Kontrollrates zu bringen. Dafür brachte dieser am 20. November 1945 offizielle Richtlinien heraus. Die Vertreibungen nach der Potsdamer Konferenz nahmen aber keine Rücksicht darauf.

Die unmittelbar nach der Konferenz und bis Ende 1945 vorgenommenen Ausweisungen zeigen dieselbe Schonungslosigkeit, die bereits die Phase vor Potsdam charakterisiert hatte.De Zayas, Nemesis, 158.

Abgesehen davon, dass Massenumsiedlungen niemals "human" sind, setzten sich Polen und Tschechen auch über die Forderung nach einem "geregelten Transfer" hinweg. Zahlreiche alliierte Zeitungen berichteten über die Grausamkeiten und das vollständige Chaos dieser Tage. Robert Murphy, der politische Berater der amerikanischen Militärregierung in Berlin, schrieb am 12. Oktober 1945 in einem dringenden Memorandum an das State Departement:

Allein auf dem Lehrter Bahnhof in Berlin haben unsere Sanitätsdienststellen täglich im Durchschnitt zehn Menschen gezählt, die an Erschöpfung, Unterernährung und Krankheit gestorben sind. Sieht man das Elend und die Verzweiflung dieser Unglücklichen, spürt man den Gestank des Schmutzes der sie umgibt, stellt sich sofort die Erinnerung an Dachau und Buchenwald ein.FRUS, 1945, 1290ff. Zitiert nach De Zayas, Nemesis, 169.

Am 30. November 1945 schrieb schließlich der US-Außenminister Byrnes ein Telegramm an den amerikanischen Botschafter in Polen, Arthur Lane. Darin bat er ihn, der polnischen provisorischen Regierung die amerikanische Missbilligung auszudrücken. Die US-Regierung sei ernstlich bestürzt über Berichte von fortgesetzten Massentransporten mit deutschen Vertriebenen, die vermutlich in Eile aus ihren Wohnungen vertrieben und um all ihren Besitz gebracht worden seien.

Solches Massenelend und die schlechte Behandlung Schwacher und Hilfloser lassen sich mit dem Potsdamer Protokoll nicht vereinbaren ... ebensowenig mit internationalen Regeln für die Behandlung von Flüchtlingen.FRUS, 1945, 1317. Zitiert nach De Zayas, Nemesis 170f.

Auch der amerikanische Botschafter in der Tschechoslowakei, Lawrence Steinhardt, sollte eine Unterbrechung der Umsiedlung von Deutschen erreichen. Leider hatte auch er keinen Erfolg. Statt dessen versuchten sich Sudetendeutsche Familien in die amerikanische Besatzungszone zu retten. Unter amerikanischen Soldaten verbreitete sich eine antitschechische Einstellung, da sie häufig Zeugen von gewaltsamen Übergriffen gegen hilflose Zivilisten wurden.

Viele Male mussten amerikanische Soldaten eingreifen, um deutsche Frauen und Kinder vor den Ausschreitungen der tschechischen Miliz zu schützen.De Zayas, Nemesis, 173.

Dritte Phase der Vertreibung

Laut Prof. de Zayas wurden von den "organisierten Umsiedlungen" in den Jahren 1946/47 etwa sechs Millionen Menschen erfasst. An der Art und Weise der Vertreibung der Deutschen änderte sich nicht viel.
Die weltberühmte Journalistin Anne O'Hare McCormick, die 1937 als erste Frau den Pulitzer-Preis ("Nobelpreis" für Journalisten) erhielt, berichtete am 23.10.1946 in der New York Times über den Fortgang der Umsiedlungen:

Der Umfang dieser Umschichtung und die Verhältnisse, unter denen sie vor sich geht, haben in der Geschichte nichts Vergleichbares. Niemand, der diese Greuel unmittelbar erlebt, kann daran zweifeln, dass es sich um ein Verbrechen gegen die Menschheit handelt, für das die Geschichte eine furchtbare Vergeltung üben wird...De Zayas, Nemesis, 179.

Obgleich dieser Bericht die fortdauernden Grausamkeiten der Vertreibungen bestätigt, sank die Sterblickeitsquote doch entscheidend. Die bloße Tatsachen, dass die Alliierten im Westen wussten, wann die Transporte und mit wie vielen Menschen ankommen würden, rettete vielen das Leben.

5. Deutsche Ostgebiete

Die deutschen Ostgebiete, die über Jahrhunderte hinweg zu "deutschen Landen" gehörten, verblieben lt. Potsdamer Protokoll ausdrücklich bei Deutschland - zumindest bis zu einer zukünftigen, abschließenden Friedenskonferenz.
Deshalb ist es unredlich und geschichtsfälschend, zu behaupten, die Alliierten hätten in Potsdam die Abtrennung der deutschen Ostgebiete und die Vertreibung der Deutschen von dort beschlossen.

Die Alliierten hatten in Potsdam die deutschen Ostgebiete lediglich unter nicht souveränitätsrechtliche polnische Verwaltung gestellt. Ausdrücklich stimmten sie überein, dass diese Gebiete nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone zu betrachten sind. (Artikel IX)

Da Polen laut Artikel IV über die deutschen Reparationen an Russland entschädigt werden sollte, war für Schlesien, Pommern etc. ein besonderer Status geschaffen worden.
Zwar übernahm Polen eine vorübergehende Nachkriegsverwaltung dieser Gebiete bis zur Friedenskonferenz, doch durften sie laut Potsdamer Protokoll keine Reparationen von dort entnehmen. Diese sollten sie von den Sowjets erhalten, die wiederum keinen Zugriff auf die deutschen Ostgebiete hatten, da sie ja wie beschrieben nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone definiert wurden.

Die Richtigkeit dieser Interpretation wird von folgenden Aussagen des US-Amerikanischen Außenminister James F. Byrnes in seiner berühmten Rede am 6.September 1946 in Stuttgart bestätigt.

In Potsdam wurden, vorbehaltlich einer endgültigen Entscheidung durch die Friedenskonferenz, bestimmte Gebiete, die einen Teil Deutschlands bildeten, vorläufig der Sowjetunion und Polen zugewiesen. Damals waren diese Gebiete von der Sowjetarmee und von der polnischen Armee besetzt. Es wurde uns gesagt, dass die Deutschen aus diesen Gebieten in großer Zahl flüchteten und dass es im Hinblick auf die durch den Krieg hervorgerufenen Gefühle tatsächlich schwierig sein würde, das wirtschaftliche Leben dieser Gebiete wieder in Gang zu bringen, wenn diese nicht als integrale Bestandteile der Sowjetunion beziehungsweise Polens verwaltet würden. [...]
Was Schlesien und andere ostdeutsche Gebiete anbetrifft, so fand die zu Verwaltungszwecken erfolgte Übergabe dieses Gebietes durch Russland an Polen vor der Potsdamer Zusammenkunft statt. Die Staatsoberhäupter stimmten zu, dass Schlesien und andere ostdeutsche Gebiete bis zur endgültigen Festlegung der polnischen Westgrenze durch den polnischen Staat verwaltet und zu diesem Zwecke nicht als Teil der russischen Besatzungszone in Deutschland angesehen werden sollten. Wie aus dem Protokoll der Potsdamer Konferenz hervorgeht, einigten sich die Staatsoberhäupter jedoch nicht dahingehend, die Abtretung eines bestimmten Gebietes zu unterstützen.
Russland und Polen haben schwer durch Hitlers einfallende Armeen gelitten. Durch das Abkommen von Jalta hat Polen an Russland das Gebiet östlich der Curzon-Linie abgetreten. Polen hat dafür eine Revision seiner nördlichen und westlichen Grenzen verlangt. Die Vereinigten Staaten werden eine Revision dieser Grenzen zugunsten Polens unterstützen. Der Umfang des an Polen abzutretenden Gebietes kann jedoch erst entschieden werden, wenn das endgültige Abkommen darüber getroffen ist."Stuttgarter Rede", US-Außenminister James F. Byrnes

Wenn die Staatsoberhäupter sich nicht dahingehend geeinigt hatten, die Abtretung eines bestimmten Gebietes zu unterstützen, dann ganz sicherlich auch nicht, die deutsche Bevölkerung aus diesen Gebieten zu vertreiben.

Dieser Punkt macht ebenfalls deutlich, dass die Potsdamer Beschlüsse de facto von den Alliierten weitgehend nicht umgesetzt wurden.

6. Quellen und weiterführende Hinweise

  • Foreign relations of the United States: Diplomatic papers, 1945. General : political and economic matters, Volume II, Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 1945. [zitiert: FRUS, 1945]
  • King, Ian: Die Nicht-Umsetzung des Potsdamer Abkommens und die Teilung Deutschlands. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Potsdam 1945. Konzept, Taktik, Irrtum? (Reihe: Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Band 81.), Duncker & Humblot, Berlin, 1997. [zitiert: King, Potsdam]
  • Zayas, Alfred Maurice de: Die Nemesis von Potsdam. Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, überarb. u. erweit. Neuauflage,Herbig-Verlag, München, 2005. [zitiert: De Zayas, Nemesis]