Begründungen für die Oder-Neiße-Linie als Grenze
1. Die Kompensationstheorie
Bei der Kompenstationstheorie handelt es sich um die Entschädigung Polens für den Verlust von Gebieten östlich der "Curzon-Linie" zugunsten der Sowjetunion - durch die Abtrennung der deutschen Ostgebiete zugunsten Polens.
Den Anstoß für die Kompensationstheorie hat wahrscheinlich Stalin gegeben. Ihm waren die traditionellen polnischen Territorialforderungen gegenüber Deutschland bekannt. Die Rückgabe "Ostpolens" an Polen schloss er kategorisch aus. Spätestens Ende Dezember 1941 brachte Stalin gegenüber dem Premierminister der polnischen Exilregierung, General Wladyslaw Eugeniusz Sikorski, den Kompensationsgedanken auf den Tisch.
Die britische Regierung sah sehr schnell, dass es aussichtslos wäre, von der Sowjetunion die Rückgabe der polnischen Ostgebiete zu erwarten. Darüber hinaus war die "Curzon-Linie" schon 1919/20 von der Entente als ethnografisch gerechtfertigte Ostgrenze Polens empfohlen worden.
So sprach sich das Londoner Foreign Office im März 1942 für eine Kompensation Polens auf Kosten Deutschlands aus.
Die in Paris gebildete polnische Exilregierung hatte bereits am 10. Oktober 1939 in einer Instruktion an ihre diplomatischen Vertretungen die traditionellen polnischen Territorialforderungen (Ostpreußen, Danzig, große Teile Schlesiens) zum Programm gemacht.
Regelmäßig viel weiter mit Forderungen - bis zu den Flüssen Oder und Neiße bzw. Bober/Queis - gingen schon bald die polnische Exilpresse sowie die national bzw. politisch rechts orientierten polnischen Untergrundorganisationen im besetzten Polen.Hartenstein, Oder-Neiße-Linie, 53
Die Kompensationstheorie war eine rein taktisch-politische Überlegung. Wirtschaftliche und ethnografische Gesichtspunkte spielten keine Rolle.
Molotow und eine sowjetisch-polnische Kommission errechneten den Wert der deutschen Ostgebiete mit 9,8 Milliarden US-Dollar (Dollarpreis von 1938) und den Wert der "polnischen Ostgebiete" mit nur 3,6 Milliarden US-Dollar. Andere Studien gelangten sogar zu einem Verhältnis von 10:1.
Die polnischen Gebiete östlich der Curzon-Linie umfassten ein Gebiet von ca. 178.000 Quadratkilometern. Die neugewonnenen Gebiete im Westen dahingegen umfassten nur 102.600 Quadratkilometer - waren aber wirtschaftlich und infrastrukturell wesentlich besser entwickelt.
In den deutschen Ostgebiete lebten z. Zt. des Zweiten Weltkriegs etwa neun Millionen Menschen - fast alle deutscher Volkszugehörigkeit. (In Oberschlesien und Masuren gab es "gemischte" Siedlungsgebiete. Die dortige Bevölkerung hatte sich aber bei den Volksabstimmungen um 1920 deutlich für Deutschland ausgesprochen.)
Diese neun Millionen Deutsche wurden fast vollständig vertrieben bzw. umgesiedelt.Hartenstein, Oder-Neiße-Linie, 130
Ebenfalls vertrieben bzw. umgesiedelt wurden etwa 800.000 alteingesessene Polendeutsche, nicht zu vergessen die in Polen lebenden Ukrainer und Weißrussen, die in einer Größenordnung von etwa einer halben Million ebenfalls aus Polen ausgesiedelt wurden.
Wurden aus "Zentralpolen" und den neuen Westgebieten über 10 Millionen Menschen umgesiedelt bzw. vertrieben, so kamen aus den ostpolnischen Gebieten "nur" 2,5 Millionen Polen.
D. h., nach Hartenstein setzte sich die neue polnische Bevölkerung in den Oder-Neiße-Gebieten nach dem Krieg folgendermaßen zusammen:
- 30% Ostpolen
- 50% Zentralpolen
- 20% Rückkehrer (aus der Emigration)
2. Rückkehr in urpolnische Gebiete?
Um den Erwerb der deutschen Ostgebiete moralisch und schließlich politisch zu rechtfertigen, griffen die (polnischen) Kommunisten auf traditionelle Stereotypen des "piastischen Nationalismus" zurück (Rückkehr in urpolnisches Gebiet, altangestammtes Gebiet, wiedergewonnene Gebiete etc.)
Nach jahrhundertelanger Herrschaft deutscher Markgrafen und Kreuzritter, preußischer Junker und Industriebarone habe Polen diese Gebiete zurückgenommen.Hartenstein, Oder-Neiße-Linie, 133.
Zwar hatte das Reich Boleslaw Chrobrys 1000 nach Christus einmal für kurze Zeit den Umfang des heutigen Polens (das Römische Reich umfasste einmal den gesamten Mittelmeerraum), doch schon 1163/1202 wurde Schlesien ein vom deutschen Reich abhängiges, selbstständiges Herzogtum. 1335 schließlich versicherte der polnische König Kasimir III. unter Eid, dass Polen niemals mehr Ansprüche auf Schlesien erheben werde.
Ähnlich verhält es sich auch mit Pommern, das 1181 deutsches Lehen wurde.
Die deutsch-polnische Grenze war vom 14. bis zum 18. Jahrhundert eine der stabilsten und unumstrittensten Grenzen ganz Europas, obwohl sie nicht durch natürliche Barrieren geschützt wurde.Hartenstein, Oder-Neiße-Linie, 134f.
Die polnische Behauptung eines national motivierten, deutschen "Drang nach Osten" ist in Bezug auf die deutsche Besiedlung der Oder-Neiße-Gebiete wissenschaftlich nicht haltbar.
Die These von "urslawischem Gebiet" lässt sich leicht relativieren, wenn man noch ein paar hundert Jahre weiter in die Vergangenheit zurück geht: In die Zeit um die Völkerwanderung. Bei dieser Art der Argumentation fallen jedoch alle zeitlichen Grenzen für Gebietsansprüche und die Diskussion landet beim völlig sinnlosen Disput "urgermanisch" contra "urslawisch".
3. Quellen und weiterführende Hinweise
- Hartenstein, Michael A.: Die Geschichte der Oder-Neiße-Linie, Olzog-Verlag, München, 2006, S. 53 - 60 u. S. 129-135. [zitiert: Hartenstein, Oder-Neiße-Linie]