Die Oder-Neiße-Grenze
Am 14. November 1990 bestätigten die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Polen in dem "Deutsch-Polnischen Grenzvertrag" die Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen beiden Staaten. Aus einer "vorläufigen" wurde nun eine "endgültige" Grenze.
Vorläufig? Hatten nicht bereits die Alliierten in Potsdam diese Grenze festgelegt? Nein! Nur die Sowjetunion und Polen als wichtigste Urheber der Oder-Neiße-Grenze hielten von Anfang an an der Endgültigkeit dieser Grenze fest.
Auch der Umstand, dass das "Büro für die Westgebiete", der "Polnische Westmarkenverband" und der "Wissenschaftliche Rat für Probleme der Wiedergewonnenen Gebiete" bereits im Februar 1945 (!) eine planvolle und stufenweise Besiedlung der künftigen Westgebiete gefordert hatten, beweist, dass die Annexion Ostdeutschlands von Anfang an eine abgemachte Sache war und mit der Konferenz in Potsdam nicht das geringste zu tun hat.Friebe, Deutschlands Osten
Die Regierungen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs hatten jedoch bis zum "Zwei-plus-vier-Vertrag" keine formelle Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ausgesprochen.
Prof. de Zayas betont, dass das Potsdamer Protokoll keine Abtrennung von Territorium zugunsten Polens festgelegt hatte, sondern lediglich eine provisorische Grenze definierte. Polen war so de jure nicht berechtigt in den Oder-Neiße-Gebieten Souveränität auszuüben. Der Artikel IX des Potsdamer Protokolls schließt dies kategorisch aus:
Die Häupter der drei Regierungen bekräftigen ihre Auffassung, dass die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zu der Friedenskonferenz zurückgestellt werden soll.Potsdamer Protokoll, Artikel IX b.
US-Außenminister James F. Byrnes fasste unwidersprochen den Standpunkt der Drei Mächte zusammen, dass eine polnische "Interimsverwaltung" dieser Gebiete keine Gebietsabtrennung darstelle.
"Angesichts dieser geschichtlichen Tatsachen", schrieb Außenminister Byrnes, "kann man kaum einem Menschen guten Glaubens zubilligen, der behauptet, die polnische Westgrenze sei auf dieser Konferenz festgelegt oder eine Zusage sei gegeben worden, sie in einer bestimmten Weise festzulegen." De Zayas, Nemesis, 226.
Unmittelbar in der Nachkriegszeit forderten zahlreiche westliche Regierungen eine Revision der polnisch-deutschen "De-facto-Grenze", z. T. in Berufung auf die Atlantik-Charta, die vorschrieb, "keine territorialen Veränderungen" vorzunehmen, "die nicht mit den frei geäußerten Wünschen der betroffenen Völker übereinstimmen."
Im März 1947 ging US-Außenminister Marshall in die Sowjetunion, um sich für eine Grenzkommission einzusetzen, die eine vernünftigere Grenze zwischen Deutschland und Polen bestimmen sollte. Weder seine noch die von Großbritanniens Außenminister Bevin geäußerten Vorschläge wurden jedoch von dem sowjetischen Außenminister Molotow akzeptiert. Dieser berief sich auf die durch Artikel XIII legitimierten Aussiedlungen von Deutschen.
Wenn die Großmächte tatsächlich Polen angewiesen hätten, alle Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Görlitzer Neiße zu vertreiben, wäre es allerdings widersinnig gewesen, dass die westlichen Alliierten zwei Jahre später behaupteten, die Vertreibungen seien nur als "vorläufige" gedacht, die Grenze müsse neu festgelegt und den vertriebenen Deutschen die Rückkehr gestattet werden. De Zayas, Nemesis, 235.
Gemäß Prof. de Zayas enthüllen die Dokumente aber eine völlig andere Sichtweise: Die westlichen Alliierten hatten Polen niemals "befohlen" die Deutschen zu vertreiben, sondern Artikel XIII ist als "Notmaßnahme" zu verstehen, insbesondere auch weil die Vertreibungen in ihren Besatzungszonen ein Chaos hervorrief. Sie forderten sogar eine Einstellung der Vertreibungen, damit dem Alliierte Kontrollrat die nötige Zeit für die Aufnahme der Menschenmassen blieb.
Bezüglich der Mehrdeutigkeit des Artikel XIII des Potsdamer Protokolls betont Prof. de Zayas, dass nach den gewohnten Regeln der Interpretation mit "Polen" Polen ohne (!) die deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße intendiert war.
Die Sowjetunion und Polen favorisierten dahingegen eine Interpretation dieses Artikels in ihrem Sinne und reagierten heftig auf die amerikanische und britische Weigerung, sich mit der Oder-Neiße-Linie als einer vollendeten Tatsache abzufinden.
Um den "panslawistischen" Anspruch auf die Oder-Neiße-Gebiete zu unterstreichen wurde nunmehr von "polnischen Westgebieten" oder "wiedergewonnenen Territorien" gesprochen, obwohl in diesen Gebieten seit mehr als 700 Jahren fast ausschließlich Deutsche gelebt hatten.
Ende des 13. Jahrhunderts gehörten ganz Schlesien und Pommern zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation; Ostpreußen (1226), Danzig (1263 Lübisches Recht) und Pommerellen (1308) wurden vom Deutschen Orden nach der Goldbulle von Rimini erobert und besiedelt.De Zayas, Nemesis, 239
Eine weitere Außenminister-Konferenz am 19. Dezember 1947 wurde von der Sowjetunion boykotiert. Stattdessen berief sie am 24. Juni 1948 eine konkurrierende Konferenz in Warschau ein. Dabei denunzierten die Außenminister der UdSSR, Albaniens, Bulgariens, der Tschechoslowakei, Jugoslawiens, Polens, Rumäniens und Ungarns "deutsche revisionistische Elemente", die die Oder-Neiße-Grenze bekämpfen würden, die eine unverletzliche Friedensgrenze sei.
Nach dieser Erklärung stand unzweideutig fest, dass die Sowjetunion in der Frage der Oder-Neiße-Linie nicht nachgeben werde. So blieb den westlichen Alliierten nur eine Alternative: die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen oder nicht anzuerkennen. Bis 1990 zogen sie die letztere Option vor.De Zayas, Nemesis, 242.
Quellen und weiterführende Hinweise
- Friebe, Georg: Deutschlands Osten und sein östlicher Nachbar. Beiträge zur Geschichte und Zeitgeschichte Ostdeutschlands, Polens und der deutsch-polnischen Beziehungen, Eigenverlag, 2004. [zitiert: Friebe, Deutschlands Osten]
- Zayas, Alfred Maurice de: Die Nemesis von Potsdam. Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, überarb. u. erweit. Neuauflage,Herbig-Verlag, München, 2005. [zitiert: De Zayas, Nemesis]