Das Bensberger Memorandum von 1968

Unter diesem Titel veröffentlichte eine Gruppe katholischer Wissenschaftler, Publizisten etc. - der so genannte "Bensberger Kreis" (aus "Pax Christi" hervorgegangen) - im März 1968 eine Denkschrift zur Frage des Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen. In einigen Punkten ähnelt sie sehr der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die bereits Anfang Oktober 1965 erschienen war und zumindest in Deutschland für Furore sorgte.
(Die später als "Ostdenkschrift" bezeichnete spektakuläre Veröffentlichung der EKD erregte die deutsche Öffentlichkeit stark. Zahlreiche Gegenschriften entstanden. Schließlich revidierte die EKD wesentliche Punkte auf der "Spandauer Synode" im März 1966. Nunmehr wurde "Vertreibung" klar als völkerrechtliches Unrecht gebrandmarkt. Am 1. März 1968 bekannte sich die EKD dann mit dem Schreiben "Friedensaufgaben der Deutschen" ganz offen zu der Idee eines wahren Friedens, der mehr ist als die bloße Anerkennung eines Status quo.)

Kerngedanken des Bensberger Memorandum sind der "Verzicht auf die Ostgebiete" und die "Gesamthaftung des deutschen Volkes". Die Motivation, sich auf diesem politischen Gebiet zu betätigen, sah der Bensberger Kreis in einer "Gleichgültigkeit der deutschen Öffentlichkeit als Hindernis für eine Arbeit am Frieden".

Insgesamt ist das Bensberger Memorandum als ein Zeugnis des guten Willens zu bezeichnen. Andererseits ist es ein Dokument großer politischer Naivität, das gesellschaftliche Realitäten ausblendete und so gleichsam in einen politisch neutralen Raum hinein ein "Luftschloss" schuf.

Vorsichtig verklausuliert sind hier folgende Thesen bzw. "Forderungen" enthalten:

  1. Gesamthaftung/Kollektivschuld
  2. Akzeptanz "vollendeter Tatsachen"
  3. Akzeptanz von "Gebietsabtrennungen"

Zwei Reaktionen auf das Bensberger Memorandum von Seiten der "katholischen Presse":

  1. Deutsche Tagespost vom 5. März 1968
  2. Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) vom 11. April 1968

zu 1.) Gesamthaftung/Kollektivschuld

These: Das gesamte deutsche Volk hafte für die Sünden seiner politischen Führung:

Niemand kann die Augen davor verschließen, dass ein Volk, dessen politische Führung einen Krieg vom Zaun gebrochen und verloren hat, nicht nur tatsächlich, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit dafür zu haften hat. Diese Haftungspflicht, die die deutsche Nation als ganze trifft, können wir uns nicht entziehen, wenn wir den Frieden ernsthaft wollen. In ihr liegt beschlossen, dass wir über Schadenersatz und individuelle Wiedergutmachung hinaus auch politische Nachteile hinzunehmen haben. Dabei können auch Gebietsverluste nicht prinzipiell ausgeschlossen werden.Bensberger Memorandum, S. 13f.

Antwort: Eine Haftungspflicht kann nur auf der Grundlage des allgemeinen Rechts geklärt werden und der gesamte Umfang des begangenen Unrechts muss in Betracht gezogen werden - auf "beiden Seiten".
Jede Schuld setzt ein individuelles Vergehen voraus. Wer Verbrechen begangen hat, soll dafür gerade stehen. Die deutschen Untaten wurden in den Kriegsverbrecherprozessen geahndet und bestraft. Was ist aber mit den Untaten von Russland, Polen, Tschechoslowakei? In diesen Ländern wurde für die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit Amnestie erlassen.

Papst Pius XII wendet sich am 13. März 1952 in Rom an Mitglieder der Pax-Christi-Bewegung hinsichtlich der Idee der Gesamthaftung/Kollektivschuld:

Für die Taten der Vergangenheit sind die heutigen Generationen nicht verantwortlich, nicht die eigene Nation und nicht die andere. Und was den Ablauf der Geschichte, auch das furchtbarste Vergehen der Gegenwart angeht, so habt Ihr es doch gesehen und erlebt es täglich, dass die Völker als Ganzes dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden können. … Wir haben zu wiederholten Malen darauf bestanden: Man ziehe möglichst die Schuldigen zur Verantwortung; man scheide jedoch gerecht und sauber zwischen ihnen und dem Volk als Ganzem. Massenpsychosen sind auf beiden Seiten vorgekommen; man muss sie hinnehmen. Es ist dem einzelnen sehr schwer, sich ihr zu entziehen und seine Freiheit von ihr nicht antasten zu lassen. Jene aber, über welche die Massenpsychose eines anderen Volkes wie ein furchtbares Verhängnis hereinbricht, mögen sich immer fragen, ob jenes Volk nicht durch Übeltäter ihrer eigenen Nation bis zum Weißglühen in Wut versetzt worden war.Papst Pius XII. Zitiert nach: Golombek, Bensberger Kreis, 28f.

zu 2.) Akzeptanz "vollendeter Tatsachen"

Forderung: Die bestehenden Tatsachen sollen als Realitäten angenommen werden, um Frieden zu ermöglichen:

Der Widerstand gegen eine einseitige Anerkennung der 1945 ohne die Mitwirkung des besiegten Deutschland geschaffenen territorialen Verhältnisse wurzelt bei vielen Deutschen, insbesondere auch bei vielen Vertriebenen, nicht in politischer Engstirnigkeit oder einem aggressiven Nationalismus. Vielmehr gehen sie von einer Auffassung aus, die sich etwa folgendermaßen charakterisieren lässt: Ein dauerhafter Frieden könne nur auf der Grundlage des Rechts, nicht aber unter Missachtung des Rechts zustande kommen. Eine solche Missachtung des Rechts sei in der Vertreibung von Millionen Deutschen aus ihrer angestammten Heimat zu sehen… Die Frage ist allerdings, ob Gerechtigkeit und Recht, die zum Frieden führen, so gesehen werden können, wie es in dieser Auffassung geschieht, oder ob hier nicht vielleicht ein Rückzug auf einseitige und übersteigerte Rechtspositionen vorliegt, der die reale Bezogenheit von Recht und Frieden außer acht lässt.Bensberger Memorandum, S. 12f.

Antwort: Der Bensberger Kreis wirft den deutschen Heimatvertriebenen (u. a.) "übersteigerte Rechtsforderungen, die nicht zum Frieden führen" vor. Der Bensberger Kreis spricht ihnen das "Recht auf die Heimat" (Rückkehrrecht etc.) ab und spricht es den polnischen Neusiedlern zu.
Mit dieser oberflächlichen Argumentation wird das Heimatrecht als Teil des Völkerrechts und des internationalen Vertragsrechts relativiert.

Bei dem Recht auf die Heimat, das die Vertriebenen beanspruchen, geht es weder um einseitige noch um übersteigerte Rechtspositionen und schon gar nicht um Rechtsbehauptungen, sondern um unabdingbares natürliches Recht. Dieses ist in der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils, in der Europäischen Menschenrechtskonvention und in unserem Grundgesetzt als Niederschlag der längst allgemein anerkannten Grundsätze des Völkerrechts, insbesondere des Deportationsverbots, verankert.Peter van Goch in: Golombek, Bensberger Kreis, 33.

Die Verletzung von Menschenrechten kann nicht einfach als politischer Nachteil "hingenommen" werden. Die Wirksamkeit des Völkerrechts darf nicht bagatellisiert werden, sondern seine Verwirklichung muss überall und jederzeit mit friedlichen politischen Mitteln gefördert werden.

Der Verzicht auf ein Recht kann nur von einem Individuum selbst vollzogen werden, nicht jedoch stellvertretend für andere Mitglieder der menschlichen Gesellschaft. Der Mensch ist ein vorstaatliches Wesen. Seine Rechte stehen höher als die staatlichen Interessen.

Personale Freiheit, Eigentum, angestammter Wohnsitz und gesicherte Entfaltung des überkommenen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Erbes sind Werte, die staatlichen Interessen nicht nachgeordnet werden dürfen.Peter van Goch in: Golombek, Bensberger Kreis, 33.

zu 3.) Akzeptanz von "Gebietsabtrennungen"

Die Völkerrechtsordnung ist, verglichen mit innerstaatlichen Rechtsordnungen, durchaus fragmentarisch und vor allem ungesichert. Ihr Bestand hängt nahezu ganz von dem Rechts- und Friedenswillen der beteiligten Staaten ab. Wer bewusst und mutwillig aus ihr ausbricht, wie es Deutschland unter Hitler getan hat, verletzt nicht nur einzelne Rechte, sondern stellt auch die Völkerrechtsordnung überhaupt in Frage und setzt damit bislang anerkannte und ihn selbst schützende Rechte aufs Spiel. Nach einem solchen Friedensbruch müssen die Friedensordnungen und die wechselseitige Achtung des Rechts erst neu hergestellt werden; sie können nicht einfach vorausgesetzt, postuliert oder gar zur Rechtfertigung der eigenen Forderungen verwendet werden. Der Friede muss dann unter den Bedingungen erst wieder gewonnen werden, unter denen er erreichbar ist.Bensberger Memorandum S. 14.

Weil Staaten immer wieder nach dem Prinzip "Macht/Gewalt geht vor Recht" handeln, ist die Völkerrechtsordnung "fragmentarisch und ungesichert". Jedoch muss man unterscheiden zwischen der "Geltung" und der "praktischen Wirksamkeit" einer Rechtsordnung. Ein Verbrecher setzt eine geltende Rechtsordnung durch ein Vergehen nicht außer Kraft.

Selbst Hitlers beispiellose Gewaltakte haben die völkerrechtlichen Prinzipien in ihren wesentlichen Inhalten nicht in Frage gestellt. Sie behielten vielmehr ihre Gültigkeit…Peter van Goch in: Golombek, Bensberger Kreis, 34.

Der Bensberger Kreis versuchte das deutsche Volk und insbesondere die Heimatvertriebenen dazu zu bewegen, auf ihr natürliches Recht (auf die Heimat) zu verzichten. Der Verzicht auf das Recht führt aber konsequenter Weise zum Verzicht auf die Rechtsidee. Mit der relativierenden Art der Betrachtung völkerrechtlicher Probleme und der willkürlichen Einordnung des Rechtsstrebens wird die Bedeutung des Völkerrechts vom Bensberger Kreis abgewertet.

In der Enzyklika "Pacem in terris" (11. April 1963) nennt Papst Johannes XXIII. vier Grundvoraussetzungen für einen wahren Frieden unter den Völkern: Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit. Im ausdrücklichen Bezug auf diese Grundvoraussetzungen erklärte die "Arbeitsgemeinschaft katholischer Vertriebenen-Organisationen" am 11. April 1968:

Die Voraussetzung ist die Wahrheit. Nur auf dieser Grundlage kann Vertrauen in die Ehrlichkeit und Redlichkeit des anderen entstehen. Darum sagen wir offen: das Verschleiern ungelöster Probleme und geschichtlicher Gegensätze zwischen den Völkern führt ebenso wenig zu einem dauerhaften Frieden wie ein einseitiges Denken. Wenn wir unsere natürlichen Rechte und die in zeitgemäße Form gebrachte Wahrung unserer geschichtlichen Kontinuität preisgäben, würden wir unglaubwürdig.
Gerechtigkeit verpflichtet uns zur Wiedergutmachung für das den Polen zugefügte Unrecht. Wir achten die Würde und Rechte unserer Nachbarn nicht weniger, als wir die Würde und Rechte unseres Volkes und unserer Volksgruppen geachtet sehen wollen. Aus diesem Grunde erwarten wir auch eine Wiedergutmachung des Unrechts, das unserem Volke widerfahren ist.
Bei allen unseren Bemühungen können wir uns nicht der Tatsache verschließen, dass heute ein Dialog in Freiheit leider nicht möglich ist. Die öffentliche Meinung in Polen wird von der Kommunistischen Partei bestimmt, und die Deutschlandpolitik Polens wird von der Sowjetunion gesteuert. Damit fehlt eine wesentliche Voraussetzung für die Verständigung von Volk zu Volk.
Die Liebe hat eine vornehme und vorrangige Kraft. Sie bewahrt die Gerechtigkeit vor Buchstabenhörigkeit. Sie schaltet den Wesensgehalt von Wahrheit und Gerechtigkeit nicht aus, beschränkt aber die Verwirklichung des Rechtes auf das Zumutbare. Die Liebe kennt keine Grenzen. Sie öffnet einen unmittelbaren Weg von Mensch zu Mensch. Eine Vielzahl personaler Beziehungen bahnt einer Versöhnung von Volk zu Volk den Weg."Unser Verhältnis zum polnischen Volk" vom 11.04.1968

Das 2. Vatikanische Konzil erinnert in der Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" (über die Kirche in der Welt) an "die bleibenden Geltung des natürlichen Völkerrechts und seiner allgemeinen Prinzipien":

Das Gewissen der gesamten Menschheit bekennt sich zu diesen Prinzipien mit wachsendem Nachdruck. Handlungen, die in bewusstem Widerspruch zu ihnen stehen, sind Verbrechen; Berufung auf blinden Gehorsam kann den nicht entschuldigen, der sie ausführt. Zu diesen Handlungen muss man an erster Stelle rechnen: ein ganzes Volk, eine Nation oder eine völkische Minderheit aus welchem Grund und mit welchen Mitteln auch immer auszurotten. Das sind furchtbare Verbrechen, die aufs schärfste zu verurteilen sind. Höchste Anerkennung verdient dagegen die Haltung derer, die sich solchen Befehlen furchtlos und offen widersetzen.Gaudium et Spes Nr. 79 in: Konzilskompendium, 538.

Reaktionen aus der "katholischen Welt" auf das Bensberger Memorandum

zu 4.) Deutsche Tagespost vom 5. März 1968

"[...] Nach den völkerrechtlich geltenden Abmachungen der Siegermächte von 1945 kann die Frage der Oder-Neiße-Linie wie alle anderen damit zusammenhängenden Probleme nur in einem Friedensvertrag gerecht gelöst werden. Zu diesem Fragenkomplex schweigt die Bensberger Denkschrift. Das Papier ist also unausgegoren und kaum diskutabel, weil es die Voraussetzungen, das Potsdamer Abkommen, außer Acht lässt. Darüber hinaus beweist die Reaktion aus dem kommunistischen Warschau, dass im Augenblick gar nichts erreicht ist, wenn wir die Oder-Neiße-Grenze als endgültige Friedensgrenze anerkennen. Die polnischen Kommunisten fordern nämlich außerdem die Anerkennung des zweiten deutschen Staates.

Die Unruhe, die die Heimatvertriebenen ob dieses Papiers erfasst hat, ist nur allzu verständlich. Der Beauftragte der Fuldaer Bischofskonferenz für Fragen der Vertriebenenseelsorge, Bischof Heinrich Maria Janssen, hat in einem Brief an den stellvertretenden niedersächsischen Landesvorsitzenden des Bundes der Vertriebenen, Anton Belda, seine Solidarität mit den Vertriebenen bekundet und erklärt, er nehme an, das Geschrei der Herren von Bensberg sei in wenigen Tagen überspielt und habe kaum noch Bedeutung..."

zu 5.) Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) vom 11. April 1968

Der Informationsdienst des BDKJ publizierte u. a. folgendes:

"Es ist die für einen dauerhaften Ausgleich zwischen beiden Völkern vordringliche Aufgabe, zunächst eine gemeinsame geschichtliche, rechtliche und moralische Basis zu schaffen. Jede endgültige Erklärung, die abgegeben wird, bevor diese Basis geschaffen ist, jede Regelung, die ohne diese Voraussetzung vorgenommen wird, kann nicht dem Frieden dienen. Von einem Memorandum, das von Katholiken erarbeitet wurde, hätte man erwarten können, dass es die von Papst Johannes XXIII. in der Enzyklika 'Pacem in terris' neu ins Bewusstsein gerückten Prinzipien - Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe - auf das deutsch-polnische Verhältnis anzuwenden und auch den Begriff der Versöhnung in seinem sachlichen Gehalte zu ergründen versucht.

Zwar beruft man sich auf die Päpste, doch geschieht dies sehr pauschal; jedes gewichtige kirchliche Wort würde die Argumentation der Denkschrift aus den Angeln heben. [...] Nichts von alledem findet man in der Denkschrift! Statt dessen ein alter, schon gewohnter, ja gewöhnlicher Vorschlag: Das Fixieren der eingetretenen Machtverhältnisse als Grundlage einer neuen Ordnung. Man braucht sich dem Frieden nur nicht zu stellen, dann hat man, was man will! Damit löst man nichts, sondern ersetzt eine Lebensraumtheorie durch eine andere. Wie will die Kirche eine verbindliche Moral setzen, wenn sich stets 'die eingetretenen Machtverhältnisse' erhärten? Gehen solche Äußerungen nicht an das Mark christlicher Ethik? Anstatt sich um die Strukturen eines zukunftsträchtigen Modells zu bemühen, das Polen wie Deutschen das ihnen gerechtermaßen Zukommende gibt, bleibt man in den eingefahrenen Gleisen nationalstaatlichen Denkens, wählt das Jahr 1945 als Nullpunkt und anerkennt einen sich überschlagenden Nationalismus als Norm und Recht..."

Quellen und weiterführende Hinweise

  • Bensberger Kreis (Hg.): Ein Memorandum deutscher Katholiken zu den polnisch-deutschen Fragen, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz, 1968. [zitiert: Bensberger Memorandum]
  • Golombek, Oskar: Dialog mit dem Bensberger Kreis. Ist das Bensberger Memorandum als Äußerung einer katholischen Meinungsgruppe ein Beitrag zu Friedensgesprächen mit unseren östlichen Nachbarn?, Wienand Verlag, Köln, 2. Aufl. 1969. [zitiert: Golombek, Bensberger Kreis]
  • Rahner/Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium, Herder-Verlag Freiburg, 24. Aufl. 1993. [zitiert: Konzilskompendium]