Antwortschreiben Danziger Priester an die polnischen Bischöfe
„Das erste Gesetz der Geschichte ist, dass sie nichts Unrichtiges zu sagen wagt, das zweite, dass sie nichts Wahres zu verschweigen wagt, dass sie keinen Verdacht von Gunst oder Hass bietet.“ Papst Leo XIII., 1883, bei der Öffnung des Vatikanischen Geheimarchivs für die wissenschaftliche Forschung.
Der historische Gehalt der polnischen Bischofsbotschaft
Ein wissenschaftlicher Arbeitskreis Danziger Priester unter der Leitung von Konsistorialrat Msgr. Prof. Dr. Franz Joseph Wothe nimmt zum historischen Teil der polnischen Bischofsbotschaft in nachstehenden Ausführungen Stellung. Er hat so Diskussionspunkte zusammengestellt, die eine Grundlage sein müssten, um den Boden wechselseitiger Verständigung im Geiste der Wahrheit, Liebe und Gerechtigkeit zu ebnen.
- Es gibt für kein Volk ein ursprüngliches Besitzrecht am Boden
- Deutsche UND Polen haben einmal Ostmission betrieben und dabei kolonisiert
- Die osteuropäische Mission und Kolonisation war kein Kolonialismus
- Der Deutsche Ritterorden war im Grunde nicht Feind der christlichen Polen
- Die Geschichte der Reformation im europäischen Osten muss ruhig und sachlich beurteilt werden
- Im Vertrag von Thorn fielen keine preußischen Gebiete an Polen
- Die Teilung Polens ging nicht von Preußen aus
- Friedrich II. von Preußen war den Polen gegenüber grundsätzlich nicht feindlich eingestellt
- Die preußische Ostmarkenpolitik um die Jahrhundertwende war gegen Polen UND Deutsche gerichtet
- Man darf die Verbrechen Hitlers nicht mit dem deutschen Volk identifizieren
Punkt 1: Es gibt für kein Volk ein ursprüngliches Besitzrecht am Boden.
Es gibt kein Volk, das in jener Gegend, die es zurzeit bewohnt, etwa seit Erschaffung der Welt oder zum mindesten seit Erschaffung des Menschen wohnt. Alle Völker und Stämme haben einst - in vorgeschichtlicher oder historischer Zeit - ihr Land in Besitz genommen, und meist waren schon, aber wiederum nicht gleich zu Beginn der Welt und der Zeit, irgendwelche anderen Völker oder Volksgruppen im derzeitigen Besitz des betreffenden Landstriches. So waren auch die Polen nicht immer in jenen Landen, die nunmehr das Gebiet der Volksrepublik Polen darstellen, und so gab es in den polnisch besiedelten Landen nichtpolnische Menschen vor der polnischen Landnahme, zwischen den verschiedenen Perioden polnischer Besiedlung und sonst wann. Immer wurden irgendwelche vorher oder zwischendurch dort Siedelnde unterworfen, und gerade die polnische Geschichte weiß viel zu erzählen von Kämpfen und Kriegen polnischer Herzöge und Fürsten um Schlesien, um Mähren, um die Lausitz, um Pommern und Pommerellen, um Litauen, die Ukraine und Moskovien. Es waren nicht bloß deutsche, germanische, normannische Könige und Fürsten, die in andere Länder vorstießen, sondern auch polnische Monarchen haben erobert, unterworfen, Menschen gefangen fortgeführt - wie es das harte Gesetz der Politik und Geschichte zu sein scheint, in welcher sich ja auch die Erbsünde auswirkt. Und auch die schlesischen Piasten waren nicht immer in Schlesien oder seit unvordenklichen Zeiten dort, sondern sind einmal dorthin gekommen, ebenso wie die Posener Piasten, etwa die beiden großen Boleslawe, gegen die Ostsee und gegen Kiew in der Ukraine vorstießen, wie die Jagiellonen die Russen unterwarfen, Preußen eroberten, Ausdehnungspolitik nach Prag und Budapest hin trieben.
Gewiss haben zu historischer Zeit oder zum mindesten seit dem 10. Jahrhundert piastische Fürsten in Schlesien regiert, aber ungereimt erscheint uns dann, dass man im Jahre 1945 und später gerade viele Menschen aus Schlesien ausgetrieben hat, deren Vorfahren dort bestimmt bereits zur Zeit der Piasten saßen. Viele unzweifelhaft slawische Namen sind bei den aus ihrer schlesischen Heimat vertriebenen Schlesiern festzustellen. Namen von uraltem, echt piastischem Klang, bloß dass man gerade diese „piastischen“ Schlesier ausgetrieben und an ihrer Stelle, und das meist unter Zwang, andere Menschen angesiedelt hat, die zur Piastenzeit bestimmt noch nicht zu Polen gehörten und die litauische, russische, ruthenische Namen tragen oder die aus Ortschaften kommen, die erst lange nach den Piasten polnisch geworden sind. Gewiss haben diese aus der Piastenzeit stammenden Familien Schlesiens gleich ihren Fürsten im Laufe der Zeit zumeist die deutsche Sprache und Kultur angenommen, aber das schließt noch nicht aus, dass sie zur Piastenzeit gerade dort wohnten, woher man sie jetzt ausgesiedelt hat. Es ist gerade für den Schlesier charakteristisch, dass er seine Gemütsart und seine menschlichen Talente einer Blut- und Kulturmischung verdankt, die eben zur Zeit der schlesischen Piasten entstanden ist und nunmehr gerade durch jene zerstört wurde, die als Nachfolger der schlesischen Piasten auftreten.
Wir fühlen tief mit den Neusiedlern auf schlesischem Boden, die man aus ihrer Heimat im Osten Polens oder im Westen des nunmehrigen Russland vertrieben und zwangsweise in Schlesien angesiedelt hat; sie haben - wie wir - die Heimat verloren; wir wollen sie nicht vertreiben und wünschen ihnen ein friedliches Leben. Aber wir dürfen doch nicht vergessen, dass unzählige der aus Schlesien Vertriebenen in ihren Vorfahren dort schon zur Piastenzeit siedelten, oft in Urkunden nachweisbar, die von den eben genannten Piastenherzögen unterschrieben und besiegelt sind. Ähnlich ist es bei unzähligen West- und Ostpreußen, bei Pommern und Mährern. Gerade pommersche und pommerellische Herzöge haben sie einst ins Land gerufen; mit einheimischen Slawen haben sie sich genauso vermischt, wie ihre Fürsten mit deutschen Familien verwandt und verschwägert wurden und seit Jahrhunderten haben sie gemeinsam mit ihren slawischen Nachbarn ihrer Heimat Boden bebaut, dessen man sie nun beraubt hat, damit in ihrer Heimat die Sowjetregierung andere Menschen ansiedle, die man wie sie aus ihrer Heimat vertrieb, auf dass sie dort Einwanderern mongolischer oder sonstiger fremder Rasse Platz machten, welche man wiederum auch von weither zur Siedlung herbeiführte, weil es sowjetrussische Politik ebenso wollte und will...
2. Deutsche und Polen haben einmal Ostmission betrieben und dabei kolonisiert.
Es gab nicht nur eine deutsche Ostmission und Ostsiedlung, in welcher früher slawische Gebiete von fremden Einwanderern in Besitz genommen wurden, und das unter dem Zeichen christlicher Mission und christlicher Kultur, sondern auch Polen hat Ostmission und Ostkolonisation betrieben. Auch Polen hat polnische Siedler in die Gebiete nichtpolnischer Nachbarn geschickt. Auch Polen ist in Gebiete vorgestoßen, die früher nicht im Bereiche polnischer Staatsoberhoheit und polnischer Sprache oder Kultur lagen. Auch Polen hat diese Siedlung und Kultivierung im Namen des Kreuzes vorgenommen und vornehmen müssen, wenn es sich als politisch betätigende und kulturtragende Nation entfalten wollte. Galizien, die Ukraine, Litauen, Weißruthenien, ja ein Teil des moskowitischen Russlands wurden von polnischen Rittern und Königen für polnische politische Herrschaft erobert, mit polnischer Sprache und Gesittung durchdrungen, von lateinischer Kultur erfüllt, für die katholische Kirche gewonnen. Hat Polen nun Strafe und Verdammnis dafür verdient, dass es z. B. in Lemberg, Kiew oder Smolensk katholische Kirchen und Klöster baute, dass Wilna die Stadt des hl. Kasimir wurde, dass Warschau inmitten masowischen Gebietes später die Hauptstadt eines großen polnischen Reiches wurde über das ursprüngliche Gnesen, Posen, Krakau hinaus! - dass polnische Kultur bis Naugard und in die „wilden Gefilde“ der Ukraine und der Schwarzmeergebiete drang?
Es war durchaus nicht nur Unterwerfung unter polnische Königsherrschaft, welche dort in diese Lande hineingetragen wurde, sondern es waren auch der christliche Glaube, die katholische Kultur, polnische Literatur, westliche Bildung. Gewiss ist Polen jetzt aus den eben genannten Gegenden mit Gewalt verdrängt worden, aber ist ein jeder Pole verpflichtet, das als zu Recht bestehend zu betrachten, oder darf er nicht ohne Stolz und Dankbarkeit darauf hinweisen, dass dort einst fruchtbare Kultur- und Missionsarbeit geleistet wurde, ohne welche diese Gebiete nie das wären, was sie sind? Muss ein jeder Pole sich anklagen und es als historische und moralische Schuld empfinden, wenn seine Vorfahren den Stämmen und Völkern jener Gegenden etwas unendlich Wertvolles brachten, was sie vorher nicht besaßen? Wie immer in der Geschichte, ging es bei dieser polnischen Ostmission und Ostsiedlung nicht ohne Krieg, und damit auch nicht ohne Gewalt und Ungerechtigkeit ab - aber ist damit polnische Ostgeschichte nur verdammenswert? Darf dann angesichts dessen deutsche Ostgeschichte nicht auch um eine Art Verständnis bitten, auch bei denen, die zeitweise bloß Objekt dieser Geschichte waren?
3. Die osteuropäische Mission und Kolonisation war kein Kolonialismus; denn niemand wurde verdrängt.
Es gab eine deutsche Ostmission und Ostkolonisation - das ist sicher! Doch es gab keinen Kolonialismus in den Gegenden, wohin im Mittelalter deutsche Missionare und Siedler kamen. Es wurden keine Polen oder Slawen verdrängt und ausgesiedelt, sondern die deutschen Siedler kamen in Gegenden, die z. T. menschenleer oder äußerst dünn besiedelt waren, so etwa nach Schlesien nach den Verwüstungen des großen Mongolensturmes um 1241 herum, so etwa nach dem Kulmerland und nach Altpreußen nach den Kriegen mit den heidnischen Pruzzen, so nach dem übrigen Polen zwecks besserer landwirtschaftlicher Erschließung des Ackerbodens oder zwecks Gründung von Städten, die den slawischen Bewohnern des Landes damals unbekannt oder ungewohnt waren. Es gab gerade in Polen doch polnische Herzöge und Könige, die die Ansiedlung deutscher Bauern und Bürger förderten. Nur einige wenige Jahre hindurch - um 1900 herum - gab es deutsche Herrscher, unter denen polnische, zu deutschen Staaten gehörende Gebietsteile bewusst deutsch kolonisiert wurden.
Das Schreiben der polnischen Bischöfe zitiert zustimmend den Satz: „In der Begegnung mit dem Imperium Ottos des Großen vor einem Jahrtausend hat sich Polens Eintritt in die lateinische Christenheit vollzogen…“, wobei die Siedler, die im Anschluss daran in die von Slawen oder Polen nicht genutzten Orte kamen, nicht nur Deutsche, sondern auch Franzosen, Burgunder, Italiener waren. Die deutschen Siedler waren keine Eroberer, aber ihnen hat - eingestandenermaßen - sowohl die polnische Landbevölkerung als auch die polnische Stadtkultur unendlich viel zu verdanken. Der Brief des polnischen Episkopats nennt als Beispiel der Kulturförderung von deutscher Seite den Namen Veit Stoß. Doch es ist nur ein ganz großes Beispiel, denen man unzählige andere, wenn auch kleinere anreihen kann. Der „Dom Fukierow“ = das Fuggerhaus in Warschau, die „Kaplica Boimow“ = Kapelle der Familie Böhm in Lemberg, die St. Annengemeinde in Wilna dürfen neben der Krakauer Marienkirche und dem herrlichen Krakauer Gewandhaus, den „Sukiennice“, genannt werden, und eigentümlich ist, dass der „gotische“ Stil im polnischen Bereich soweit festgestellt werden kann, wie auch die deutsche Siedlung im Mittelalter reichte. Die vielen deutschen Namen im Bürgertum Polens deuten ebenfalls auf deutschen Kultureinfluss hin.
Es war gewiss ungerecht, aus dem Einfluss deutscher Hansa und deutschen Handwerks im polnischen Mittelalter nationalpolitische Forderungen in der Neuzeit abzuleiten - und es war ein großes Unrecht, als man im Kriege plante oder begann, die polnischen Nachbarn der deutschen Siedler aus ihrer Heimat zu vertreiben, aber darf man uns überhaupt verübeln, dass wir gern an diesen deutschen Einfluss denken und dass wir die „Einpolung“ dieser deutschen Handwerker, Kaufleute, Bauern als einen Verlust an unserer volklichen Substanz empfinden und das umso mehr, als manche polnische Patrioten von radikal antideutscher Gesinnung gerade aus früher deutschen Familien stammen? Raum für alle hat die Erde, besonders auch unsere gemeinsam bewohnte Heimaterde! Veit Stoß ist auch als „Wit Stwosz“ ein großer Künstler, aber er wirkte nicht nur in Krakau, sondern war auch Nürnberger Bürger, und sein Krakauer Marienaltar gehört beiden Kulturen und beiden Volkstümern an, oder besser: er gehört der ganzen christlichen Menschheit. Es ist auch nicht vergessen, dass dort, wo die deutsche Ostsiedlung stärker war als im eigentlichen Polen, noch lange slawische Herrscherhäuser auch unter der Lehnshoheit des Deutschen Reiches ungehindert weiter regieren durften. Mecklenburg hatte bis 1918 das Geschlecht der Obotriten als angestammtes Großherzoghaus zu Herren, und in Stettin, in vielen schlesischen Kleinherrschaften, im Posenschen und sonst wo waren sich viele Adelshäuser ihrer slawischen oder polnischen Abstammung bewusst, wenn sie auch einem Herrscher deutscher Abkunft gehuldigt oder in seine Familie hineingeheiratet hatten.
4. Der Deutsche Ritterorden war im Grunde nicht Feind der christlichen Polen.
Polen und Deutsche oder deutsch sprechende Preußen werden wohl immer verschiedener Ansicht über die Bedeutung des Deutschen Ritterordens sein, ohne dass daraus natürlich ewige Feindschaft und stetes Missverständnis in allen Dingen entstehen mussten. Der Deutsche Ritterorden als solcher ist nur aus dem Geiste der Kreuzzugsbewegung zu verstehen, aus dem Kampfe um das Heilige Grab, aus der Überzeugung der damaligen westlichen Ritterschaft von der Notwendigkeit soldatischen Eintretens für den christlichen Glauben auch mit der Bereitschaft des Opfers seines Lebens. Gerade die berühmte polnische Erzählerin Zofla Kossak-Szczucka hat in ihrem gigantischen Romanepos „Krzyzowcy“ (= Die Kreuzfahrer) die ritterliche Begeisterung und auch den religiösen Gehalt der Kreuzzugsidee herausgearbeitet, wobei sie dann allerdings in den beiden letzten Bänden, welche „Bez oreza“ (= Ohne Schwert) heißen und von der Pilgerfahrt des hl. Franziskus handeln, sehr richtig betont, dass eben „ohne Schwert“ dem Herrn weit tiefer und wirkungsvoller gedient wird als auf bewaffnetem Kreuzzug. Doch ist die Idee des Kampfes für Christus und die Kirche auch der polnischen religiösen und patriotischen Mentalität des polnischen Volkes durchaus nicht fremd. Sienkiewicz stellt in seinen Romanen über die Kosaken- und Türkenkämpfe in der Ukraine als zugleich christlichen und polnischen Helden den biederen Longinus Podbipieta in den Mittelpunkt der Handlung, der gelobt hat, er wolle zu Ehren der Muttergottes drei Türkenköpfe auf einmal abhauen...
Nach der Niederlage des Ritterordens in Preußen hat man zeitweise in Polen erwogen, den Orden in Podoien zum Kampfe gegen die Türken anzusiedeln, aus der Erwägung heraus, dass der bewaffnete Kampf gegen die Ungläubigen zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten doch nicht zu verurteilen sei, wie an der Weichselmündung und Ostsee. Im Jahre 1579 schlug der polnische Hetman Johannes Chodkiewicz vor, der katholisch gebliebene Teil des Ordens - die Balleien in Süddeutschland - sollte zusammen mit Polen um den Besitz Livlands gegen schismatische Russen und lutherische Schweden kämpfen; auch Chodkiewicz ist also gar nicht abgeneigt gewesen, einen kirchlichen Ritterorden zum Kampfe gegen Christen - wenn auch nichtkatholische - und sogar zur Eroberung zu verwenden. Und noch im Jahre 1650 hat der polnische Kanzler Opalinski sehr ernstlich den Plan gehegt, gegen Tataren und Türken einen Grenzwall von Ortschaften zu schaffen mit je etwa hundert bis zweihundert deutschen Siedlern und Soldaten - eine Art deutschen „Kosaken“-tums -‚ die dort als Wehrbauern das Land gegen mohammedanische Einfälle verteidigen sollten. Auch da erschien der Gedanke einer Ordensorganisation zum Kampfe gegen Heiden oder islamitische Ungläubige gar nicht so abwegig. Während der Auseinandersetzungen des patriotischen polnischen Adels mit den Russen zur Zeit der Teilung Polens gründeten die adligen Polen ebenfalls einen ritterlichen „Orden Mariens“ gegen die Russen. Also auch hier und zu damaliger höchst moderner Zeit gab es „Kreuzritter“, bloß dass diese auf polnischer Seite sich betätigten und infolgedessen nicht dem Verdikt verfielen, als „Krzyzacy“ antipolnische Politik zu betreiben.
Der Ausdruck „mit Feuer und Schwert“ stammt überdies von einem Buchtitel Sienkiewiczs - und das aus einem Roman über die Kosakenkriege - und gehört nicht zu dem Vokabular der Deutsch-Ordens-Ritter! - Was diese nun anbelangt, so ist es bestimmt falsch, anzunehmen, die deutschen Herren hätten sich besonders gegen die Polen gewalttätig aufgeführt. Ihr Krieg galt in erster Linie nicht den Polen, sondern den heidnischen Preußen/Pruzzen, die früher auch Polen bekämpft hatten, und es fochten gegen die preußischen Heiden nicht bloß die Kreuzheere der deutschen Marienritter, sondern oft auch polnische und andere slawische Herren samt ihren Mannen. So trägt etwa Königsberg in Ostpreußen seinen Namen zu Ehren des tschechischen Königs Prymislaw Ottokar von Böhmen. Auch haben die Deutschordensheere beileibe nicht alle Preußen einfach „ausgerottet“, denn woher waren dann die Menschen gekommen, für die man in Ostpreußen zur Reformationszeit einen Katechismus in altpreußischer Sprache schaffen musste? Es ist auch ein Teil der ostpreußischen Landesritterschaft und der Bauern dort unzweifelhaft preußischer Abkunft gewesen. Den Polen gegenüber hat der Deutsche Ritterorden aber weder polnische Menschen vertrieben noch sie verfolgt, sondern er hat sie übernommen und ihnen durch Umbesetzung vom slawischen auf Kulmer Recht bessere Wirtschafts- und Lebensbedingungen verschafft. Und im heutigen Masuren hat er sogar Siedler masowischer Abkunft speziell angesetzt (Vgl. Mortensen, Die Besiedlung des nordöstlichen Ostpreußens bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts, 1937-38; Kasiske, Die Siedlungstätigkeit des Deutschen Ordens im östlichen Preußen bis zum Jahre 1410; 1934), dank denen Masuren schon zur Zeit des Ordens, und dann erst recht zu königlich-preußischer Zeit ein slawisches Gesicht erhielt, wenn diese ostpreußischen Masuren auch, vielleicht wegen ihres späteren lutherischen Glaubens, sich mehr als gute Preußen denn als Polen fühlten. Der polnische Gegensatz gegen den Orden stammt nicht aus der Verwerfung seiner Tätigkeit „mit Feuer und Schwert“ gegen die heidnischen Preußen, sondern ist bedingt durch die Eroberung Danzigs, wodurch Polen von der Ostsee abgesperrt wurde, der Orden aber durch die Eroberung Pommerellens die für seine Existenz notwendige Verbindung mit Pommern und dem Reich erhielt. Dieser Gegensatz ist aber nicht religiös fundiert und auch nicht ethischer Natur, sondern ist rein politischer Art und gehört lange der Vergangenheit an. Es wäre vielleicht zu wünschen, dass die durch den im Sinne Dmowski'scher Politik geschriebenen Sienkiewicz-Roman „Krzyzacy“ in jedem jungen polnischen Menschen erzeugte und geförderte Feindschaft gegen den längst vergangenen Deutschen Ritterorden endlich einmal zu Grabe getragen werde und dass die polnische Öffentlichkeit sich ihre Meinung über den Ritterorden fürderhin nicht auf Grund von sowjetischen Farbfilmen bildete. Das alte Polen sah in den Weißmänteln an der Weichsel- und Nogatmündung wohl seine politischen Gegner, aber niemals die Verkörperung alles Bösen. Im Gegenteil - im zweiten Thorner Frieden (1466) forderte die polnische Seite sogar, es sollten nunmehr auch Ritter polnischer Nationalität in den Orden aufgenommen werden. Der Deutschordensgedanke erschien nicht mehr abwegig, wenn sich der Orden der Ratio polnischer Ostseepolitik untergeordnet hätte!
5. Die Geschichte der Reformation im europäischen Osten muss heute ebenso ruhig und sachlich beurteilt werden wie die gesamte Reformationsgeschichte.
Der Brief der polnischen Bischöfe nennt als Persönlichkeit, die in jedem polnischen Katholiken ungute Gefühle weckt, auch den letzten Ordensgroßmeister Albrecht von Brandenburg, der seinen Ordensstaat, bzw. die Reste davon, in ein weltliches Herzogtum unter polnischer Lehnsoberhoheit verwandelte, nachdem er mit der Mehrzahl seiner Ritter und Geistlichen die Reformation angenommen hatte. Der letzte Hochmeister erscheint damit als Exponent antikatholischen Luthertums und wohl auch als Begründer des antipolnischen preußischen Staatsgedankens. Auch ein bewusst deutscher Katholik empfindet den Verlust des Deutschordenslandes für die Kirche und dessen Ausscheiden aus dem deutschen Reichsverband von einst als einen Verlust sowohl deutschen Ansehens als auch katholisch-kirchlicher Gemeinschaft. Doch ist Albrecht politisch insofern entschuldigt, als er vorher redlich um Hilfe beim Kaiser und bei den Reichsständen nachgesucht hatte und erst dann, als er von allen im Reiche verlassen und aufgegeben wurde, dem Rate Dr. Martin Luthers folgte und sich säkularisierte. Doch geschah diese Umwandlung des Ordensstaates in einen weltlichen Staat durchaus mit Zustimmung seines Onkels, des Königs von Polen, den Albrecht dann als seinen Lehnsherrn anerkannte und sich damit der Oberhoheit der Krone Polens unterstellte. Polen erfuhr durch die Säkularisierung des Ordensstaates einen beträchtlichen Machtzuwachs, wie es später auch durch die Säkularisierung des Schwertbrüderordens in den Besitz des einst deutschen Baltikums, der polnisch sogenannten „Inflanty“ kam. Es war dann auch, solange diese beiden ehemaligen Ordensstaaten innerhalb der polnischen Lehnsoberhoheit blieben, nach polnischer Meinung alles in Ordnung, wenn auch Rom den Verlust des Ordensgebietes nie sanktionierte. Und als sich der katholisch gebliebene Teil des Deutschen Ordens, die Balleien unter dem Deutschmeister, um den Erwerb des protestantischen Preußens bemühte, um es mit Hilfe der katholischen deutschen Ritter und des katholischen deutschen Kaisers zu rekatholisieren, da gehörte Polen zu den Verteidigern des status quo, d.h. stand auf der Seite der protestantisch gewordenen Ritter trotz seiner sonst grundsätzlichen Katholizität. Zum Feinde Polens und damit zu einer für Polen unheilvollen Persönlichkeit wurde Albrecht von Ostpreußen-Hohenzollern erst dann, als er durch Erbvertrag die Brandenburgischen Hohenzollern, seine Verwandten, in Ostpreußen zu Erben seiner Herrschaft einsetzte und dadurch dem „Großen Kurfürsten“ Friedrich Wilhelm von Brandenburg später Gelegenheit gab, durch die Verbindung Ostpreußens mit Brandenburg Polen wiederum vom Meere abzuriegeln und schließlich die Möglichkeit für die Entstehung eines Königreichs Preußen als Gegner Polens zu schaffen.
Es ist zwar für einen polnischen Katholiken nicht zu übersehen, dass von Königsberg und von Preußen her die Reformation in Polen eindrang, wodurch dieses Land unzweifelhaft in die Gefahr des politischen Zerfalls geriet. Aber die Reformation kam nach Polen nicht nur von Preußen her, sondern drang von überall her ein, besonders in die Städte und in die Reihen der „Schlachta“, und gewann die Herzen der freiheitsliebenden Adligen auch ohne den Rückhalt in Preußen. Im polnischen Adel waren die kalvinistischen Sympathien weit größer als die Beeinflussung durch lutherische Ideen von Königsberg und den preußischen Staaten her. Wenn man aber den Ostpreußen früher eine gewisse Antipathie gegen Polen und den Katholizismus nachsagte, so war das allerdings z. T. richtig; doch kam diese Einstellung nicht aus einem etwa angeborenen Polenhass, sondern war vor allem dadurch bedingt, dass mit der Zeit in Ostpreußen auch vertriebene Protestanten aus dem Salzburgischen und vertriebene Hugenotten siedelten, die natürlich, weil durch katholische Fürsten ihrer Heimat beraubt, ihre antikatholischen Gefühle nicht verbargen. Zudem waren auch die polnischen Könige als Vertreter der Gegenreformation aufgetreten, und das hatte sie ebenfalls z. Zt. zu Gegnern der ostpreußischen Protestanten gemacht.
Doch auch dabei geht es mehr um eine zeitweise politische Gegnerschaft als um eine „Erbfeindschaft“, und nicht nur die deutsch sprechenden Ostpreußen tragen die Schuld daran. Das berühmt Gemälde von Matejko, benannt „Hold pruski“ = die preußische Huldigung, war bewusst antipreußisch und antideutsch konzipiert und sollte beim Beschauer durchaus nicht bloß künstlerisches, sondern in erster Linie polnisch-nationales Bewusstsein wecken. Ähnlich war es mit dem „Grunwald“-Denkmal in Krakau seit 1910, wo ein Deutschritter mit dem Kopf nach unten zu Füßen des Königs Jagiello lag.
6. Diskussionspunkt: Im Vertrag von Thorn fielen nicht preußische Gebiete an Polen; denn es kam nur zu einer Personalunion im Herrschaftssystem.
Wenn gegenüber dem Ritterorden gewisse polnische Gefühle negativer Art auch schließlich verständlich sind, obwohl diese erst seit neuerer Zeit entstanden oder gegen den Orden künstlich hervorgebracht wurden, so darf auf polnischer Seite nicht vergessen werden, dass der Deutsche Orden im Jahre 1466 - im zweiten Thorner Frieden - Pommerellen, das Kulmer Land und das Ermland an Polen abtreten musste, da die westpreußischen Stämme sich den König von Polen zum Landesherrn erwählt hatten, dass dieser Friedensschluss aber ursprünglich beileibe nicht nationale Bedeutung hatte, in dem Sinne, als wenn polnische Lande zu Polen „zurückgekehrt“ waren. Der König von Polen wurde durch den Frieden von 1466 bloß der Landesherr der sogenannten Bezirke, aber diese preußischen Gebiete fielen nicht an Polen, sondern standen nur durch Personalunion unter einem Herrscher, der zugleich auch König von Polen war. Sonst behielten diese Gebietsteile ihre Privilegien und führten ein Sonderdasein wie etwa Ungarn unter den englischen Königen. Vor allem behielten diese Länder die deutsche Amts-, Umgangs- und Gerichtssprache und bewahrten sich ihre alten, preußischen Gepflogenheiten.
Dieser Thorner Vertrag zwischen Westpreußen und der Krone Polens wurde aber von polnischer Seite im Jahre 1596 durch die „Lubliner Union“ gebrochen: Westpreußen - auch Königlich-Preußen genannt - wurde mit Polen vereint, und auf den Protest der preußischen Abgeordneten hin, ob sie denn von nun an nicht mehr Preußen sein sollten, rief ihnen die polnische Mehrheit des Sejms zu: „Nein! Sie sind von nun an alle Polen!“
Traditionsbewusste preußische Kreise haben der polnischen Politik diesen Vertragsbruch nicht vergessen, und manches antipolnische Ressentiment in Preußen - und auch der Abfall preußischer Städte und Adligen zum Schwedenkönig während der polnisch-schwedischen Auseinandersetzungen - mag mit diesem Staatsstreich von Lublin zusammenhängen. Das „preußische Indigenat“, das noch gegenüber einem Bischof Hosius betont wurde, und das bedeutete, dass nur ein gebürtiger Preuße Ehren und Würden in Westpreußen bekleiden durfte, wurde nicht mehr beachtet. Es konnten auch andere Bevölkerungsschichten in Westpreußen eindringen und die einheimische Bevölkerung dort sogar allmählich zu einer Minderheit im eigenen Territorium machen.
Wir behaupten nicht, dass durch diese Eingliederung in den polnisch-litauischen Großstaat wider den Willen der preußischen Abgeordneten die damalige Politik als „unmoralisch“ abzustempeln ist. Aber wir erinnern nur an diese zwangsweise Inkorporierung, die in der polnischen Geschichtsschreibung nicht immer in ihrer Neuheit gegenüber dem ursprünglichen Thorner Vertrag gewürdigt wird. Ordenspreußen ist nicht zu Polen als zu seinem „Mutterlande“ »zurückgekehrt“, sondern wurde durch Majorisierung im Lubliner Sejm ein Teil des polnisch-litauischen Reiches.
7. Diskussionspunkt: Die Teilung Polens ging nicht von Preußen aus.
Die eigentliche Teilung Polens vom Jahre 1772 ab ging sodann nicht von Preußen aus, sondern erfolgte von Russland her. Das 17. Jahrhundert, das in Deutschland durch die Religionskriege, besonders durch den 30-jährigen Krieg ausgefüllt ist, wird im Osten von dem Vormarsch Polens gegen Moskau und von dem Aufstand der Kosaken sowie der Gegenaktion der Russen beherrscht. In den Wirren um die Besetzung des Moskauer Zarenthrons bemühten sich polnische Magnate und Könige um die Zarenkrone für einen polnischen Herrscher, und polnische Heere quartierten in Moskau und waren weit in die Ukraine vorgestoßen. Es war durchaus möglich, dass eine polnische Dynastie das Erbe der Rurikiden und den Besitz der weiten Ukraine antrat. Den Ausschlag gegen Polen gaben letzthin Gründe des religiösen Bekenntnisses: Kosaken und Moskowiter waren schismatisch, Polen katholisch eingestellt und deswegen betrieb es eine Politik der kirchlichen und politischen Union. Zudem waren die in der Ukraine und in Russland tonangebenden polnischen Katholiken meist adlige Großgrundbesitzer. Religiöser Widerstand des orthodoxen Kosakentums und der russischen Bevölkerung vereinte sich mit einem ukrainischen Bauernaufstand gegen die Magnaten. Der Sieg fiel den Aufständischen zu, und Polen musste den Rückzug aus Moskau und der Ukraine antreten. Dazu kam die Drangsal der Schwedenkriege, die durch das Unternehmen der polnischen Könige aus dem schwedischen Hause Wasa veranlasst waren, und intern diese Schweden mit politischer und militärischer Gewalt wieder katholisch machen wollten. Politisch ging es dabei eigentlich um die Frage: entweder kommt beim Kampf um das „Dominium Marl Baltici“ das lutherische Schweden unter die Herrschaft der katholischen Polenkönige aus dem Hause Wasa oder das halb protestantische Polen wird ein Teil des schwedischen Imperiums unter der Herrschaft lutherischer Fürsten. Es gelang weder das eine noch das andere. Das Resultat aber dieser Kriege sah so aus: einst hatte der - auch im Brief der Bischöfe erwähnte - Professor Wlodkowicz aus Krakau beim Konstanzer Konzil gegen den Deutschen Orden argumentiert, die Völker des Ostens seien kein Freiwild, das man mit Feuer und Schwert bekämpfen und bekehren könne - nunmehr wandte sich der vorübergehend von Polen bezwungene schismatische Osten gegen Polen, und vom Osten, von der Ukraine und von Russland her, begann die allmähliche Aufteilung der polnischen Adelsrepublik, die dann schließlich zum Ende des königlichen Polens führte. In diesem Jahrhundert der ukrainisch-schwedischen Kriege hat aber Polen keine bewaffneten Auseinandersetzungen mit Deutschland erlebt; im Gegenteil: Polen und Habsburg waren zeitweise als katholische Mächte mit einander verbündet, und gerade dieses für Polen so verhängnisvolle Jahrhundert straft die Redensart von der deutsch-polnischen Ur- und Erb-Feindschaft Lügen.
8. Diskussionspunkt: Friedrich II. von Preußen war den Polen gegenüber grundsätzlich nicht feindlich eingestellt.
Auch Friedrich II. von Preußen war durchaus nicht gegen Polen und das Polentum als solches eingestellt. Friedrich war ein guter Freund des Bischofs von Krasicki von Ermland, eines berühmten polnischen Dichters und Satirikers und gleich dem Preußenkönige ganz und gar Vertreter der Aufklärung. Aber der Preußenkönig suchte „Population“ für sein durch seine Kriege menschenarm gewordenes Land und er erlangte durch den Erwerb von Westpreußen die Verbindung zwischen Ostpreußen und Brandenburg. Zudem suchte er Russland möglichst weit und möglichst lange von seinen und Europas Ostgrenzen fernzuhalten. All das entschuldigt natürlich nicht seine kalte „Realpolitik“, verdient aber auch nicht eine Einstellung gegen ihn, die ihn auch heute noch zum Gegenstand politischen nationalen Hasses macht - so als wenn heute noch Napoleon von den Deutschen gehasst werden müsste. Friedrich II. hat Schulen auch mit polnischer Unterrichtssprache gegründet und keinen seiner neuen Untertanen nach seiner Muttersprache und Konfession, wohl aber nach seiner Arbeitsfreudigkeit und seiner „Profession“ gefragt, da er vor allem tüchtige Bauern, Handwerker und Soldaten brauchte, nicht aber germanisieren wollte. Es ist gänzlich verfehlt, in Friedrich einen antipolnisch eingestellten Deutschtümler zu sehen. Wenn er Russland nicht die ganze Beute gönnte, so hat er dadurch auch seine polnisch sprechenden Untertanen vor der russischen Herrschaft bewahrt und den Vormarsch Russlands gegen Mitteleuropa noch für anderthalb Jahrhunderte aufgehalten. Eher könnte man von nationaldeutscher Seite her dem Preußenkönig vorwerfen, dass er durch die Eroberung Schlesiens den deutschen Einfluss in Österreich geschwächt und durch die Eroberung dieser Provinz für Preußen die Tschechisierung Böhmens vorangetrieben hat.
9. Die preußische Ostmarkenpolitik um die Jahrhundertwende war antikatholisch, gegen Deutsche und Polen gerichtet.
Konform mit den Ausführungen der polnischen Bischöfe gehen wir deutschen Katholiken bei der Beurteilung der preußischen Ostmarkenpolitik und ihrer antipolnischen und antikatholischen Miss- und Übergriffe gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit den preußischen Polen erlebten ja auch die katholischen und deutschen Untertanen Preußens die Minderbewertung und Bedrückung alles Katholischen von Seiten der führenden preußischen Staatsmänner und unter ihnen in erster Reihe Bismarcks. Der Vertreter der deutschen Katholiken, Windthorst, hat dann auch eng mit den preußischen Polen zusammengearbeitet, nicht zuletzt im preußischen Landtag und dann später im deutschen Reichstag. Besonders der Kulturkampf sah die deutschen und polnischen Katholiken des Königreichs Preußen Seite an Seite. Aber nicht nur im rein religiösen haben die deutschen und polnischen Katholiken Preußens und Deutschlands während des 19. Jahrhunderts zusammengehalten. Zur Zeit des polnischen Aufstandes von 1830 und dann während der Revolution von 1848 kam es zu einer Jahrzehnte währenden Polenfreundschaft bei den deutschen Katholiken und vielen anderen Deutschen überhaupt. Deutsche Dichter dieser Zeit schrieben ihre „Polenlieder“, und deutsche und polnische Barrikadenkämpfer schlugen sich Schulter an Schulter in Berlin und Süddeutschland in den Revolutionsjahren 1848 und 1849. Es war zu jener Zeit tatsächlich oft so, wie es das Schreiben der polnischen Bischöfe darstellt: es ging „um unsere und eure Freiheit“! Doch darf nicht unterschlagen werden, dass auch die preußische Regierung gleich nach den Befreiungskriegen den Polen im Posenschen ein nationales und autonomes „Großherzogtum“ bewilligt hatte unter einem polnischen Statthalter, dem Fürsten v. Radziwill, der mit dem königlichen Hause Preußen verschwägert war. Auch wollte man während der Revolution 1848 den Polen ein besonderes Territorium im Posenschen zur Verfügung stellen, wo sie ihre eigene Sprache und Kultur pflegen, wo sie sogar eine eigene polnische Wehrmacht besitzen sollten. Doch die Polen traten gerade bei dieser Gelegenheit als unentwegte Gegner des preußischen Staates auf und kämpften als Insurgenten gegen preußische Truppen, was dann nach der Revolution dazu führte, dass die preußische Regierung eine Unterdrückungspolitik begann.
Es war dann vor allem auch Bismarck, der administrative scharfe Mittel gegen den „Polonismus“ anwandte, d. h. gegen jene Bewegung, welche die polnisch sprechenden Landesteile von Preußen trennen wollte. Die Polen antworteten mit antideutschen Boykottmaßnahmen, die wiederum Gegenaktionen der Regierung hervorriefen. Es kann nicht verschwiegen werden, dass sehr viel Unrecht gerade auch von Seiten Preußens und Bismarcks in diesen Auseinandersetzungen geschehen ist, aber der Druck kam von beiden Seiten, und beide Parteien verfochten eine rücksichtslose, harte Politik. Bismarck sah in seinen Maßnahmen eine berechtigte Reaktion gegen das von Preußen abdrängende Polentum. Die Polen wiederum überforderten ihre Unabhängigkeit. Es ist schwer, die preußische Politik ganz zu entschuldigen, besonders wenn man an ihre schulischen Vorschriften, an ihre Ansiedlungsmaßnahmen, an das Enteignungsgesetz denkt - aber die preußischen Staatsmänner waren doch nicht ganz im Unrecht, wenn sie betonten, es gehe den preußischen Polen weitgehend besser als denen unter Russland und der Aufstieg Deutschlands nach 1870/71 komme auch den polnischen Untertanen Preußens zugute (Vgl. Frauendienst, Preußisches Staatsbewusstsein und polnischer Nationalismus. Preußisch-deutsche Polenpolitik 1815-1890, in: „Das östliche Deutschland“, Würzburg 1959, S. 239 ff).
Man darf auch nicht die Tragik verkennen, die in der deutschen Einheitsbewegung und im Kern der Gründung des neuen deutschen Reiches lag und die sich gerade in der Polenpolitik nach 1870/71 äußern musste: es konnte wohl vor 1870 polnische Preußen - d. h. Untertanen des Königs von Preußen mit polnischer Muttersprache - geben, aber wohl kaum „polnische Deutsche“ in einem national-deutschen Reich - und anderseits gehörten zu diesem deutschen Reiche notgedrungen weil verzahnt mit Deutschen siedelnd - sowohl Polen und Wenden im Osten als auch französische Lothringer im Westen und Dänen im Norden, während Deutschösterreicher und Deutschungarn außerhalb des neuen Reiches bleiben mussten. Nicht ganz unberechtigt hat nicht nur der Provinzialpräsident V. Schön, sondern hat auch Bismarck zeitweise West- und Ostpreußen sowie Posen aus dem Deutschen Bund herausgehalten, um eben eine loyale preußische Polenpolitik führen zu können. Doch war eine solche Isolierung in einem Deutschen Reich nicht mehr gut möglich, nicht zuletzt mit Rücksicht auf Russland und die Polen innerhalb des neuen Reiches, das nicht ein ideales Gebilde, sondern ein Staat war.
Es darf bei all dem nicht vergessen werden, dass die Polen den größten Teil des 19. Jahrhunderts hindurch ihren Feind Nr. 1 in Russland sahen, bis erst Roman Dmowski entschlossen zum Umdenken aufrief, als Panslawist mit den Russen Frieden schloss, die ganze nationale Widerstandskraft der Polen gegen das biologisch rückwärts sich bewegende Deutschland und Deutschtum wandte und dadurch einen Hass der Polen gegen Deutschland eigentlich erst schuf. Zur Zeit v. Caprivis arbeiteten die polnischen Abgeordneten durchaus loyal mit dem deutschen Reichskanzler zusammen und stützten dessen Politik, und auch der neue Kaiser Wilhelm II. war bei seinem Regierungsantritt und besonders bei seinem Auftreten gegen Bismarck von den Polen herzlichst begrüßt worden. Auch um 1900 herum gab es keine „Erbfeindschaft“ zwischen Polen und Deutschen. Die „deutsch-polnische Erbfeindschaft“ ist künstlich durch den „Ostmarkenverein“ - HKT - und durch den polnischen „Westmarkenverein“ - OKZ - geschaffen worden - zum Unheil für beide Nationen.
10. Diskussionspunkt: Man darf die Verbrechen Hitlers nicht mit dem deutschen Volk identifizieren. Der Schuldkomplex zwischen Deutschland und Polen ist sehr vielschichtig.
Wenn wir nunmehr zu Hitlers Politik gegenüber der Republik Polen und dem polnischen Volke und Volkstum kommen, so sind auch hier - wie bei den vorherigen Überlegungen - bei polnischen wie bei deutschen Katholiken die Meinungen übereinstimmend. Hitlers Kriegs- und Ausrottungspolitik wurde und wird nicht nur von katholischen Deutschen, sondern gerade auch von national eingestellten weiten Kreisen des deutschen Volkes verurteilt und abgelehnt. Es ist bekannt, dass auch der deutsche Generalstab sowie die verantwortlichen, leider aber von dem NS-Regime abgestellten deutschen Staatsmänner und Diplomaten ganz und gar gegen diese Politik waren (Vgl. Foerster, Generalobert Ludwig Beck. Sein Kampf gegen den Krieg, München 1953; Ulrich v. Hassell, Vom Anderen Deutschland, Franfurt a. M./Hamburg 1964; Röthfels, Die deutsche Opposition gegen Hitler, Frankfurt a. M./Hamburg 1960; v. Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler, Fischer-Bibl. Nr. 305; Ritter, Carl Goerdeler und die Deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954).
Der deutsche Widerstand und die Aktion um den 20. Juli hat sich gerade an der Angelegenheit Polens und der Polen immer wieder aufs Neue entzündet, und die deutschen Freiheitskämpfer sind auch um einer besseren Behandlung der Polen willen in den Tod gegangen. Es ist wohl wahr - wie die polnischen Bischöfe schreiben - dass „die deutsche Uniform, die deutsche Sprache, der deutsche Mensch den Polen in der dunklen Nacht“ der Okkupation verhasst geworden sind; man sollte gerechterweise aber auch nicht vergessen und man müsste polnischerseits auch mehr darauf hinweisen, dass deutsche Offiziere und Staatsmänner im Kriege mit Gefahr des eigenen Lebens für einen Frieden mit Polen und eine gerechtere Behandlung des polnischen Volkes eingetreten sind, dass deutsche Bischöfe und Geistliche polnische Menschen nach Möglichkeit unterstützt, dass deutsche Soldaten Polen nicht selten vor den Parteifunktionären und der SS in Schutz genommen haben, dass deutsche Menschen für ihr christliches Eintreten Polen gegenüber ins Gefängnis und Lager und aufs Schafott wandern mussten. Es war nicht nur „dunkle Nacht“, was da zwischen deutschen und polnischen Menschen sich abspielte! Auf beiden Seiten müsste weit mehr daran erinnert werden, dass es inmitten des Krieges und seiner Gräuel auch echte Hilfe und christliches Wohlwollen zuletzt im kirchlichen Raum gegeben hat.
Wir bedauern, dass die oft lebensgefährliche Seelsorge deutscher Priester an Polen im Briefwechsel mit keinem Wort erwähnt wird. Vor allem aber haben die kirchlichen und christlichen Kreise Deutschlands nie die Vertreibungspolitik Hitlers gutgeheißen, weder als Plan noch als fait accompli. Sie konnten während des Krieges ebenso wenig gegen die NS-Regierung auftreten wie die polnischen Bischöfe in ähnlichen Fällen gegen ihre kommunistische Regierung, aber im Innern hat kein Christ und Katholik die Aus- und Umsiedlung bejaht. Zudem hat aber der Episkopat durchaus nicht den offenen Protest gegen die „bevölkerungspolitischen Maßnahmen“ der NS-Regierung gescheut - und diese Maßnahmen waren auch gegen die Polen gerichtet. Fast unzählige Geistliche sind bestraft worden - bis zum Höchstmaß der Strafen! - weil sie Polen seelsorglich und karitativ geholfen haben. Zudem betrafen die gleichen Maßnahmen, die sich gegen Polen richten, auch Deutsche - und wir sind den polnischen Bischöfen dankbar, dass sie bekennen: „Tausende von Deutschen teilten als Christen und Kommunisten in den KZ-Lagern das Los unserer polnischen Brüder“. Es gab auch den Polen gegenüber „das andere Deutschland“, und dieses Deutschland ist wohl repräsentativer als das sonst von den Polen dargestellte, wenn natürlich dieses Deutschland bei all seinem Gerechtigkeitsgefühl gegenüber Polen auch durchaus national gesonnen blieb (Vgl. Gundlach! Panzer, Peter Buchholz, der Seelsorger von Plötzensee, Meitingen 1964; Lilie, im finstern Tal, Hamburg 1963; Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München-Hamburg 1964; Goliwitzer u. a., Du hast mich heimgesucht bei Nacht, München-Hamburg 1964).
Wie in Polen mit Recht immer sehr sorgfältig polnische Kultur und polnisches Volkstum von der Politik der kommunistischen Partei geschieden wird, so sollte man doch wohl auch Deutschland und die Deutschen als solche von einer dunklen Zeit und von dunklen Elementen im deutschen Schicksal zu trennen wissen.
Doch seien auch hier noch einige Bemerkungen zur furchtbaren, nicht entschuldbaren Polenpolitik des nationalsozialistischen System gemacht. Hitler war nicht als Reichsdeutscher, sondern als Österreicher geboren, und als solcher hatte er dort die Nationalitätenkämpfe in der langsam sich auflösenden, aber doch eigentlich unersetzlichen Donaumonarchie miterlebt. Er hatte das stete Vordringen des Slawentums dort erfahren und das Deutschtum in unaufhörlichem nationalen und sozialen Rückzug erlebt. Ihm war dabei - im Geiste v. Schönerers - vor allem das Slawentum als diejenige Macht erschienen, die gegen das Deutschtum Österreichs auftrat (Vgl.: E. Franzel, Der Donauraum im Zeitalter des Nationalitätenprinzips, München 1958). Er kannte aber auch die Pläne Roman Dmowskis gegenüber dem Deutschtum in den preußischen Grenzgebieten, jene Pläne, die schon um 1900 herum eine polnische Inbesitznahme Schlesiens, Pommerns und teilweise Brandenburgs sowie ganz selbstverständlich auch Ost- und Westpreußens in Aussicht nahmen, unter Verdrängung des dort siedelnden Deutschtums. Hitler hatte auch Gelegenheit gehabt, die Politik der galizischen Polen gegenüber den Ukrainern zu beobachten und ihren nationalistisch-imperialistischen Charakter zu durchschauen. Auch die Aktionen der Magyaren gegen die Kroaten und Südslawen und deren Gegenaktion sowie die Kämpfe der Südslawen gegeneinander hatte er zur Kenntnis genommen. Er sah infolgedessen in der Entstehung slawischer Staaten nach dem ersten Weltkrieg auf Kosten ihrer Nachbarn nicht nur eine Erscheinung historischer Gerechtigkeit, die bereits unfreien Völkern die nationale Unabhängigkeit bescherte, sondern er erkannte auch die imperialistischen Triebkräfte in diesen Freiheitskämpfen, die ohne Rücksicht auf die Freiheit anderer immer nur die eigene Herrschaft meinten. Die Tschechen wollten ja nicht nur die Unabhängigkeit des tschechischen Volkes, sondern sie wollten alle Völker und Stämme der „Wenzelskrone“ tschechischer Vorherrschaft unterwerfen. Die Serben strebten nicht nur nach der Vereinigung und Freiheit aller serbisch sprechenden Slawen, sondern drängten auch nach der Herrschaft über Kroaten, Slowenen, Ungarn, Balkandeutsche. Die Polen träumten nicht nur von der Befreiung und Zusammenführung aller Polen, sondern wollten ein Großreich „von Meer zu Meer“, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer mitsamt Litauen, Weißruthenien und der Ukraine und natürlich auch möglichst weiten ostdeutschen Gebieten.
Reichsdeutscher geworden, erlebte Hitler zusammen mit allen Deutschen nach 1918 das polnische Vorgehen gegen das besiegte Deutschland: den Aufruhr in Posen zu Weihnachten 1918, die drei polnischen Aufstände in Oberschlesien, den Handstreich der Polen gegen Wilna, den Feldzug Pilsudskis gegen Kiew, die Versuche der polnischen Politiker und Militärs, den Ruhreinfall der Franzosen zu Aktionen gegen Schlesien und das Memelgebiet zu benutzen und ähnliches mehr. Er hat es wohl nie vergessen, dass nach 1933 Pilsudski den Westmächten einen Präventivkrieg gegen das NS-Deutschland vorschlug und polnische militärische Kräfte sofort dazu zur Verfügung stellte, was gewiss die Zustimmung des ganzen polnischen Volkes damals gefunden hätte, aber von der Entente abgelehnt wurde. Auch war gerade seit in polnischen Zeitungen aller Richtungen die Propaganda für eine Abtrennung wenigstens Ostpreußens vom Reich und für eine Umwandlung dieser Provinz in eine Art „östlicher Schweiz“ unter polnischem Protektorat - wenn auch mit drei Amts- und Umgangssprachen: polnisch, litauisch, deutsch - sehr rege. Dazu traten polnische Aktionen in Danzig, die deutscherseits als Übergriff empfunden wurden.
Hitler wusste auch genau um die Hintergründe der „Reforma rolna“ in Polen mit ihrem bewusst antideutschen Gesicht in den polnischen Westgebieten und um die Auswirkungen des polnischen sogenannten „Grenzzonen-Gesetzes“, wonach in Westpreußen der größte Teil dieser Wojewodschaft zum „Grenzgebiet“ erklärt wurde, worin ohne Genehmigung der Behörden kein Besitzerwerb, nicht einmal die Möglichkeit freien Erbens bestand und wonach jederzeit jeder Einwohner dort aus „Gründen der Staatssicherheit“ aus- und umgesiedelt werden konnte, und solche Umsiedlungen und Ausweisungen sind dann auch noch kurz vor dem Kriegsausbruch tatsächlich erfolgt. Dazu kam, dass bei der Übernahme von Westpeußen, Polen und Oberschlesien durch die Polen eine Massenauswanderung der deutschen Bevölkerung von dort erfolgt war, die durchaus nicht nur preußische Beamte betraf. Diese Auswanderer hingen natürlich weiterhin an ihrer alten Heimat. Zudem erlebte jeden Tag auch der Eisenbahnreisende aus dem Reich, dass er während der Fahrt durch den „Korridor“ kontrolliert wurde, wenn er aus dem Westen nach Ostpreußen oder von Ostpreußen ins Reichsgebiet fahren wollte. Die in Polen zurückgebliebenen Deutschen aber wurden hier immer als unerwünschte Elemente betrachtet.
All das bedeutet natürlich nicht eine angeborene und ererbte Nationalfeindschaft zwischen Polen und Deutschland und kann nie und nimmer eine Entschuldigung Hitlers darstellen, aber bei dem eminent propagandistisch eingestellten Charakter der ganzen NS-Bewegung kann man sich nicht wundern, dass, Tatsachen und Vorfälle dieser Art gern dazu benutzt wurden, die Stimmung im deutschen Volke gegen Polen entsprechend feindselig zu gestalten.
Auch im heutigen Volkspolen wird vom kommunistischen Regime die deutsche Gefahr gern als Ablenkungsventil für wirtschaftliche oder innerpolitische Schwierigkeiten missbraucht. Es kamen dann auch - besonders in den ersten Kriegstagen - Übergriffe auch polnischer Behörden und Privater gegen Volksdeutsche vor, wenn auch wohl nicht in dem Ausmaß, wie diese dann von der NS-Propaganda ausgenutzt wurden. Doch bezeugen und erklären manche Geschehnisse den eben beiderseits künstlich erzeugten Hass, der dann die sowieso schon antipolnische Einstellung Hitlers zu einer Vernichtungsaktion größten Ausmaßes machte. Es kann von uns deutschen Katholiken aus Danzig, Westpreußen und aus dem deutschen Osten überhaupt nicht verschwiegen werden, dass die ganze antipolnische Politik Hitlers geplant und gezielt war. Doch darf man auch nicht übersehen, dass es auch auf polnischer Seite - sowohl vor dem ersten Weltkriege als auch in der Zeit zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg - viel Feindschaft und Hass gegenüber Deutschland und den Deutschen gab und dass sich diese Antipathie oft auch gegen Einzeldeutsche richtete und dass sie sehr häufig von oben her gezielt war. Deutsche Schuld darf nicht und polnische Schuld kann nicht verschwiegen werden, umso mehr ist die Notwendigkeit kirchlicher Friedenspredigt und christlicher Liebesaktion notwendig! Schuld lässt sich nicht gegen Schuld aufrechnen, aber wir müssen alle bekennen: Wir haben alle gefehlt!
Umso mehr schmerzt es uns Ostvertriebene dann, wenn auch das Schreiben der polnischen Bischöfe es nicht unterlässt, von „jenen Preußen“ zu sprechen, die „aus dem Siedlungsgebiet der Kreuzritter hervorgegangen“, „alles Deutsche in polnischen Landen in allgemeinen Verruf brachten“. Darf man das einfach so hinschreiben? Weder Hitler noch Himmler, noch Frank, noch Goebbels darf man wohl als „Preußen“ bezeichnen, wohl aber ist der Oberbürgermeister Dr. Goerdeler und sind viele Offiziere, Diplomaten und Politiker aus der Verschwörung des 20. Juli „Preußen“ gewesen. Es wäre gut, wenn man nicht ein „Preußen“, das nicht mehr besteht und sich nicht wehren kann, einem „Deutschland“ gegenüberstellte, das weder preußisch noch eigentlich deutsch, sondern im Grunde „jakobinisch“ war, wenn es vielleicht auch manchem west- oder süddeutschen Leser des polnischen Bischofsschreibens dadurch leichter gemacht wird, die historischen Thesen dieses Schreibens zu übernehmen. Es sei auch nicht verschwiegen, dass unter den - im polnischen Bischofsbrief erwähnten - in den Diözesen Kulm und Danzig ermordeten Priestern sich auch Deutsche befunden haben, und dass im Jahre 1945 ebenfalls deutsche Priester von den damaligen Eroberern in russischer und polnischer Uniform getötet worden sind (vgl. Meczenstwo duchowienstwa pomorskiego, Pelplin; Verlag der Bischöflichen Kurie. Schwark: Ihr Name lebt. Ermländische Priester in Leben, Leid und Tod; Osnabrück 1955. Stachnik: Danziger Priesterbuch, Hildesheim 1965).
Ohne darin im geringsten eine Entschuldigung für Hitlers Untaten zu sehen, müssen wir auch darauf hinweisen, dass die von Deutschen an Polen verübten Gräueltaten doch nur deswegen geschehen konnten, weil das heute mit der polnischen Volksrepublik verbündete Sowjetrussland in seinem Abkommen mit Hitler vom Sommer 1939 diesem und seinen Genossen ein plein pouvoir gegenüber der Republik Polen und vor allem auch gegenüber der polnischen Intelligenz und Geistlichkeit ausgestellt hat und dass auch in den 1939 von den Russen besetzten Gebieten sofort Polen- und Katholikenverfolgungen einsetzten, mitsamt einer geplanten Austreibung oder Umsiedlung der alteingesessenen polnischen Bevölkerung. Diese Polenaustreibung erfolgte dann in noch größerem Ausmaße im Jahre 1945 und in der darauf folgenden Zeit, und die Eroberung der sogenannten polnischen „Westgebiete“ hängt aufs Engste zusammen mit jener Polenvertreibung im Osten unter sowjetrussischer Aegide. Es gab „dunkle Nacht“ für das Polentum nicht nur zur Zeit der hitlerischen Okkupation, sondern diese „Nacht“ besteht auch heute noch fort. Es gab nicht nur eine SS, sondern es gibt auch eine UB und eine NKWD oder wie sonst deren Nachfolgerin heißen mag. Es gab nicht nur die entsetzlichen deutschen KZ-Lager, sondern es gibt auch heute noch sowjetische Straflager, auch auf polnischem Gebiet und für polnische Patrioten bestimmt. Es gab Polenmorde nicht nur von Seiten deutscher Funktionäre, sondern - wie man im Oktober 1956 entsetzt erfuhr - auch von Seiten der Russen und ihrer polnischen Helfershelfer. Es gab nicht nur Stutthof, Oranienburg, Dachau usw., sonders es gab auch Katyn und es gibt Sibirien und die Eismeergebiete mitsamt ihren Todeslagern.
Mit Recht betont der Brief der polnischen Konzilsväter auch die „ungeheuren Gefahren moralischer und sozialer Art, welche die Seele unseres Volkes, aber auch seine biologische Existenz bedrohen“ und vor denen dieses unglückliche Volk „nur die Hilfe und Gnade unseres Erlösers retten“ kann. Wir dürfen wohl nicht fehlgehen, wenn die obersten polnischen Seelenhirten damit vor allem die Freigabe der Abtreibung, die Behinderung und Verhinderung katholischen Religionsunterrichtes für polnische Kinder, die Überwachungsaktionen gegenüber der polnischen Intelligenz und Geistlichkeit meinen. Es sei auch an den Verlust Lembergs, Wilnas, der polnischen Ostgebiete erinnert, worin wir gerade als Katholiken nicht einen „Akt ausgleichender historischer Gerechtigkeit“ sehen können, sondern einen Verlust für die gesamte katholische Christenheit, der durchaus nicht dadurch aufgewogen wird, dass nunmehr in den Kirchen des früheren deutschen Ostens und nunmehrigen polnischen Westens anstelle von deutschen Katholiken ostpolnische beten. Allerdings hat es noch kurz vor dem zweiten Weltkriege im damaligen polnischen Osten Zerstörungen weißruthenischer und ukrainischer Kirchen schismatischen Bekenntnisses gegeben, die zwar nicht von der katholischen Kirche, aber doch von polnischer Regierungsseite her betrieben wurden und die dann den Terror der Russen, Weißruthenen und Ukrainer gegen die polnischen Katholiken in etwa verständlich machen, wenn auch nicht als verzeihlich erklären. Ebenso sei nicht vergessen, dass es auch in Polen in der Zeit zwischen beiden Weltkriegen einen ziemlich radikalen Antisemitismus gab, der auch heute noch nicht ausgestorben ist, wenn er auch nicht zu den grausigen Ausrottungsmaßnahmen der SS führte.
Franz Joseph Wothe
Quelle
Golombek, Oskar : Die katholische Kirche und die Völker-Vertreibung, Wienand-Verlag, Köln 1966