Die Staatsräson des Kardinal August Hlond
August Hlond (* 5. Juli 1881 + 22. Oktober 1948) wurde 1922 erster polnischer Apostolischer Administrator in der neuen Diözese Kattowitz (Katowice), die in dem nach dem 1. Weltkrieg von Deutschland an Polen abgetretenen Teil Oberschlesiens errichtet wurde. 1925 wurde er dort zum Bischof eingesetzt. 1926 wurde August Hlond zum Erzbischof von Posen-Gnesen berufen und zum Kardinal-Primas von Polen ernannt.
Kurz nach Kriegsausbruch verließ Kardinal Hlond am 16. September 1939 Polen und kehrte erst nach Kriegsende am 10./11. Juli 1945 dorthin zurück. (Vgl. Scholz, Kollektivschuld, 225f.)
Am 24. Oktober 1946 schrieb Kardinal Hlond einen Brief aus Warschau an das vatikanische Staatssekretariat in Rom (Msgr. Tardini). Darin versuchte er ein Fehlverhalten zu entschuldigen bzw. zu rechtfertigen.
Was war passiert?
1. Polonisierung der ostdeutschen Diözesen
Als Breslau am 6. Mai 1945 kapitulierte, wusste wohl der Bischof von Breslau, Kardinal Adolf Bertram, der auf seinem Sterbelager auf Schloss Johannesberg (Sudetenland/CSSR) lag, was bevorstand: Die Zerteilung und Polonisierung der Erzdiözese. (Vgl. Scholz, Staatsräson, 50f)
Kurz nach Kriegsende forderte der polnische Bischof Adamski von Kattowitz (+12.11.1967) den Breslauer Generalvikar Josef Kramer auf, in dem nach 1921 bei Deutschland verbliebenen Teil Oberschlesiens die kirchliche Gewalt sofort in polnische Hände zu legen. (Vgl. Scholz, Staatsräson, 51)
Mit der wachsenden Zahl der gezielt nach Schlesien gelenkten Massen innerpolnischer Umsiedler und Repatrianten aus dem Ausland - nur wenige kamen aus den verlorenen Ostgebieten - wuchsen die Ansprüche der polnischen Seite, besonders als das Ergebnis von Potsdam bald mit allen propagandistischen Mitteln in der von Stalin zielbewusst verfochtenen Version (volle Endgültigkeit der Grenzen) publik gemacht wurde.Scholz, Staatsräson, 51
Die extreme Interpretation des Potsdamer Protokolls durch Stalin übertrug sich auf die katholische Kirche Polens, in der immer stärker "rein polnische" Verhältnisse gefordert wurden.
Der deutsche Episkopat vertraute darauf, dass die "Rückstellungsklausel" von Potsdam den Vatikan an kanonischen Diözesan-Änderungen hindern würde. (Vgl. Scholz, Staatsräson, 53)
Obwohl die katholische Kirche dem kommunistischen Regime keine politische Unterstützung leistete, vermied sie jeden Konflikt mit der Staatsmacht und arbeitete in einigen Feldern, wo es ein gemeinsames nationales Interesse gab, sogar mit dem Staat zusammen. Eine solche Übereinstimmung gab es in der Frage der neuen polnischen Grenzen im Westen und in der Besiedelung der Oder-Neiße-Gebiete. Die Kirche unterstützte die offizielle These, dass es sich hier um ein "uraltes polnisches Territorium" handele.Holzer, Nationale Identität, 70
Nachdem Kardinal Bertram am 6. Juli 1945 auf Schloss Johannesberg gestorben war, wählte das Breslauer Domkapitel am 16. Juli den bisherigen Domdechanten Dr. Ferdinand Piontek zum Kapitelsvikar.
Am 12. August 1945 besuchte Kardinal Hlond Dr. Piontek und behauptete, der Hl. Vater habe beschlossen, für die unter der Verwaltung des polnischen Staates stehenden Gebiete Apostolische Administratoren zu bestellen. (Vgl. Scholz, Kollektivschuld, 236 und Staatsräson, 55)
Hlond legte Piontek die Rücktrittserklärung vor und betonte nochmals, dass dies ausdrücklich dem Willen des Papstes entsprechen würde. Eine schriftliche Bevollmächtigung für sein Vorgehen legte Hlond nicht vor. Nach dem alten Kirchenrecht von 1917 (CIC 1917 can. 239, 1 §17) galt eine von einem Kardinal mündlich vorgetragene Botschaft des Papstes als glaubwürdig. Dr. Piontek resignierte. (Vgl. Scholz, Kollektivschuld, 237f)
Das nunmehr vakante Erzbistum Breslau wurde von Kardinal Hlond in drei Bezirke aufgeteilt, in denen er jeweils einen polnischen Apostolischen Administrator einsetzte.
Am 16. August 1945 nötigte Hlond auch Bischof Kaller (Diözese Ermland, Ostpreußen) zum Rücktritt.
Am 17. 8. 45 machte Hlond die Freie Prälatur Schneidemühl, im September den Prager Anteil (Glatz), im Oktober den Olmützer Anteil (Branitz) mit J. Nathan und seinen weitberühmten Heilanstalten 'frei'.Scholz, Kollektivschuld, 240
2. Reaktion des Vatikans
Die "Neuordnungen" Hlonds wurden von Rom nicht approbiert. Weder wurden die neuerrichteten kirchlichen Amtsbezirke vermerkt noch die Apostolischen Administratoren in den "Weltschematismus" (Annuario Pontificio) übernommen. Das preußische Konkordat von 1929 behielt diesbzgl. bis 1970 (Ostverträge) seine Gültigkeit: Breslau wurde weiterhin als Erzbistum und Ermland und Schneidemühl als seine Suffragane (Teil einer Kirchenprovinz) ausgewiesen. (Vgl. Scholz, Kollektivschuld, 241)
Bereits am 8. Juli 1945 hatte Papst Pius XII. in einem Reskript Kardinal Hlond mitgeteilt, dass er eine Ernennung von Apostolischen Administratoren in den Oder-Neiße-Gebieten ablehne. Dieselbe Antwort hatte Hlond auf seine Bitte um entsprechende Vollmachten hin bereits vom vatikanischen Staatssekretariat kurz zuvor am 26. Juni erhalten. (Vgl. Scholz, Kollektivschuld, 233)
Das päpstliche Reskript vom 8. Juli 1945 beschränkte die Vollmachten Hlonds deutlich auf "Altpolen". Auf die deutschen Diözesen war es nicht anzuwenden. Hlond hatte kein Recht, amtierende Jurisdiktionsträger zur Resignation zu drängen. (Vgl. Scholz, Staatsräson, 70)
Rom hat seinen Einspruch gegen das unkanonische Vorgehen auch weltweit diskret bekundet. Angesichts der hochgespannten innerpolitischen Spannung zwischen Partei und polnischem Staat einerseits und der katholischen Hierarchie andererseits, war dem Vatikan offene Kritik an Hlond nicht möglich.Scholz, Kollektivschuld, 240
Darüber hinaus existierte auch in Rom zumindest eine gewisse Zurückhaltung gegenüber einem Eintreten für deutsche Interessen. Der Osservatore Romano schwieg wie die gesamte Weltpresse über die unerhörten Vorgänge der Vertreibungen in Ostdeutschland bzw. Süd-/Ost-Europa.
Der weltbekannte Forscher des tridentinischen Konzils, Dr. Hubert Jedin aus Breslau, der seit Jahren als Naziverfolgter in Rom auch für den Osservatore tätig war, erklärte darauf:
Solange der 'Osservatore' sein Schweigen über das, was in Schlesien und Ostdeutschland geschieht, nicht aufgibt, schreibe ich keine Zeile für ihn!"Scholz, Staatsräson, 90
Im Oktober 1945 reiste der Breslauer Konsistorialrat Dr. Johannes Kaps nach Rom. Gemeinsam mit Dr. Jedin wollte er das "Schweigen" brechen. Am 10. Oktober erhielt Kaps Audienz bei Papst Pius XII. Dieser gab seine Zurückhaltung gegenüber der deutschen Kirche schließlich auf: Am 1. November 1945 richtete er ein Hirtenwort an die Deutschen. Mit deutlichen Worten prangerte er das unermessliche Leid an, in das die deutsche Zivilbevölkerung vor allem in Ostdeutschland mit Ende des Krieges gestürzt wurde. Klar verurteilte Pius XII. die Kollektivschuldthese. (Vgl. Scholz, Kollektivschuld, 90f)
Über die Ernennung polnischer Administratoren für die deutschen Diözesen und Kirchensprengel war Pius XII. überrascht.
Die ursprünglich resignierende Ergebung in den (vermeintlichen) Willen des Papstes schlug bei vielen vertriebenen Deutschen in Kritik und Misstrauen um. Langsam dämmerte es ihnen, das Kardinal Hlond sich seine Vollmachten bei der Ernennung der Apostolischen Administratoren eigenmächtig angemaßt hatte.
Ohnmacht, tiefste, das Herz verletzende Enttäuschung und ratlose Trauer überkamen die wehrlosen Opfer polnischer Staatsräson, als deren engagierte Anwälte sich die polnischen Hierarchen immer besorgniserregender entpuppten.Scholz, Staatsräson, 125
Noch im Hirtenwort vom 1. März 1948 spricht Papst Pius XII. die Hoffnung aus:
Wir glauben zu wissen, was sich während der Kriegsjahre in den weiten Räumen von der Weichsel bis zur Wolga abgespielt hat. War es jedoch erlaubt, im Gegenschlag zwölf Millionen Menschen von Haus und Hof zu vertreiben und der Verelendung preiszugeben? Sind die Opfer jenes Gegenschlages nicht in der ganz überwiegenden Mehrzahl Menschen, die an den angedeuteten Ereignissen und Untaten unbeteiligt, die ohne Einfluss auf sie gewesen waren? [...] Ist es wirklichkeitsfremd, wenn Wir wünschen und hoffen, es möchten alle Beteiligten zu ruhiger Einsicht kommen und das Geschehene rückgängig machen, soweit es sich rückgängig machen lässt?Papst Pius XII, 1.03.1948
Zwar entschuldigte sich Kardinal August Hlond mit dem eingangs erwähnten Brief vom 24. Oktober 1946 für sein eigenmächtiges Vorgehen beim Vatikan. Bei den unrechtmäßig zur Resignation gedrängten deutschen Bischöfen bzw. Jurisdiktionsträger und ihren Gläubigen jedoch nicht.
Der polnische Episkopat ignorierte die aus Rücksicht auf die schwierige Situation der Katholischen Kirche in Polen diskret formulierten päpstlichen Mahnworte. Im Gegenteil: In den kommenden Jahren wurde Kardinal Hlond in Polen fast zu einem Übermenschen stilisiert, durch den Gottes Vorsehung wirkte. (Vgl. Scholz, Kollektivschuld, 227f)
Selbst in einem Hirtenbrief vom 23. Juni 1965 anlässlich des 20. Jahrestag der polnischen Kirchenorganisation in den West- und Nordgebieten, hielt der polnische Episkopat an der wahrheitswidrigen Behauptung fest, die Neuordnung von 1945 sei mit Billigung des Hl. Stuhles erfolgt. (Vgl. Scholz, Kollektivschuld, 229)
Im Hinblick auf eine von Polen angestrebte Seligsprechung Hlonds schrieb Franz Scholz:
Kardinal Hlond ist zweifellos ein großer Pole. Aber ist jeder Große eines Volkes auch ein Seliger nach dem Maßstab der Weltkirche? Zweifellos hat er Heroisches für sein Volk geleistet, aber im Hinblick auf seinen Umgang mit den deutschen Fragen mangelt ihm der heroische Grad einer aus der Ferne wirkenden Heiligkeit. [...] Als Sieger hat er christliche Großmut nicht geübt. Er blieb Gefangener der unmenschlichen Forderungen der eigenen Staatsräson. Er hat dies auch nie bereut, sondern als Großtat seines Lebens feiern lassen.Scholz, Kollektivschuld, 248
3. Quellen und weiterführende Hinweise
- Holzer, Jerzy: Die Kirche und die Nationale Identität. In: Lobkowicz, Nikolaus u. Luks, Leonid (Hg.), Der polnische Katholizismus vor und nach 1989, Böhlau Verlag, Köln 1998, 67-73 [zitiert: Holzer, Nationale Identität]
- Scholz, Franz: Kollektivschuld und Vertreibung. Kritische Bemerkungen eines Zeitzeugen, 1. Auflage, Knecht-Verlag, Frankfurt/Main, 1995 [zitiert: Scholz, Kollektivschuld]
- Ebd.: Zwischen Staatsräson und Evangelium. Kardinal Hlond und die Tragödie der ostdeutschen Diözesen, 3. Auflage, Knecht-Verlag, Frankfurt/Main, 1989 [zitiert: Scholz, Staatsräson]
- 08.07.1945 Päpstliches Reskript an Kardinal Hlond im Auftrag von Monsignore Tardini