Vertreibung aus dem Sudetenland
- Einleitung
- Vorgeschichte
- Das Karlsbader Programm
- Das Münchener Abkommen vom 29. September 1938
- Der Zweite Weltkrieg und die Vertreibung der Sudetendeutschen
- Quellen und weiterführende Hinweise
1. Einleitung
Die Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den westlichen Alliierten als erste gebilligt. Die Erwähnung der Sudetenfrage weckt in den USA und in Großbritannien bis heute sofort die Erinnerung an das "Münchner Abkommen" (1938) und die westliche "Appeasement" - Politik, welche die "Sudetenkrise" und damit die Kriegsgefahr durch Hitlers ultimative Forderungen an die Tschechoslowakei (vorläufig) bannte.
Mit dem Münchener Abkommen waren die territoriale Revision des Versailler Vertrags abgeschlossen und die großdeutsch-nationalstaatlichen Forderungen vollständig erfüllt.Timmermann, München, 147.
2. Vorgeschichte
Der Friedensvertrag von Saint-Germain-en-Laye (10.09.1919) hatte im Zuge der Zerstückelung des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn mit Ende des Ersten Weltkrieges die Grenzen des neuen Staates Tschechoslowakei festgelegt.
Aus der Zerstückelung der Doppelmonarchie geboren und dennoch kein natürliches Produkt dieses Zerfalls, wurde der neue Staat von zwei tüchtigen Staatsmännern geformt, den diese gegen den Willen der beteiligten Völker zu einer einzigen Nation verschweißen wollten.De Zayas, Nemesis, 55.
Dieser von Tomás Masaryk und Edvard Beneš gegründete unabhängige Nationalstaat "Tschechoslowakei" umfasste neben Tschechen und Slowaken auch Polen, Ungarn, Ukrainer und etwa dreieinhalb Millionen "Deutsch-Österreicher" - die "Sudetendeutschen".
Der Welt wäre wohl viel Elend erspart worden, wenn die Politiker 1919 der Tatsache Rechnung getragen hätten, dass so wenig wie die Tschechen als Minderheit in einem von Deutschen beherrschten Vielvölkerstaat auch die Deutschen nicht als Minderheit in einem slawischen Staat leben wollten.De Zayas, Nemesis, 56.
US-Präsident Wilson hatte u. a. in seiner berühmten Rede vom 8.01.1918 (Vierzehn Punkte) zum Ende des Ersten Weltkrieges gefordert, dass Grenzen gemäß klar definierbarer Volkszugehörigkeit gezogen werden sollten. (Vgl. FRUS, 1918, 12ff.) Die Situation der 3,2 Millionen im Grenzland von Böhmen und Mähren lebenden Deutschen bot für eine solche "ethnische Trennung" nahezu eine ideale Grundlage.
Statt das Selbstbestimmungsrecht, wie Wilson es für die Völker Österreich-Ungarns eingefordert hatte, auch den Sudetendeutschen zu gewähren, beanspruchte die am 28. Oktober 1918 in Prag ausgerufene Tschechoslowakische Republik auch das Sudetenland als Teil ihres Staatsgebietes.
Friedliche Demonstrationen der Sudetendeutschen für das Selbstbestimmungsrecht wurden blutig niedergeschlagen. So am 4. März 1919, als in Kaaden an der Eger und in anderen Städten 54 unbewaffnete Demonstranten unter dem tschechischen Kugelhagel ihr Leben lassen mussten; Hunderte wurden verletzt.De Zayas, Nemesis, 60.
Josef Harna vom Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften in Prag hebt hervor, dass die deutsche Regierung die erste war, die die Tschechoslowakei in ihren Grenzen anerkannte. Die Ausschreitungen vom 4. März 1919 bezeichnet er so als überflüssig und tragisch. (Vgl. Harna, Minderheit, 106.)
Doch die Neue Zürcher Zeitung "prophezeite" unmittelbar im Anschluss an diese Ereignisse am 7. März 1919, dass es ausgeschlossen sei, dass Deutschböhmen sich nun unter das tschechische Joch beugen werde...
Am 10. März 1919 warnte eine amerikanische Expertenkommission die amerikanische Delegation bei den Friedensverhandlungen in Paris, die Sudetendeutschen unter eine Fremdherrschaft zu stellen. Dies wäre eine Ungerechtigkeit und für die Zukunft des neuen Staates gefährlich und vielleicht verhängnisvoll... (Vgl. FRUS, Paris, 274)
Als das tschechoslowakische Parlament am 1. Juni 1920 eröffnet wurde, verurteilte der deutsche parlamentarische Verband in einer Rede den Vertrag von St.-Germain scharf:
Die Tschechoslowakische Republik ist daher das Ergebnis eines einseitigen tschechischen Willensaktes und hat diese Gebiete widerrechtlich und mit Waffengewalt besetzt. Die deutschen Sudetenländer sind in der Tat um ihren Willen niemals befragt worden, und das Ergebnis der Friedensverträge ist daher mit Beziehung auf sie die Sanktionierung eines Gewalt-, aber niemals eines Rechtszustandes.De Zayas, Nemesis, 65.
3. Das Karlsbader Programm
Die Sudetendeutschen, denen die Vereinigung mit den Tschechen aufgezwungen worden war, drängten auf eine politische und soziale Gleichberechtigung und eine gewisse Autonomie für die deutsch bevölkerten Gebiete. Die SdP (Sudetendeutsche Partei) unter Konrad Henlein rang sich zur stärksten Einzelpartei im tschechischen Parlament empor. Sie versuchten die Sudetenfrage zunächst in demokratischer Weise zu lösen.
Die allmähliche Eskalation in der Auseinandersetzung zwischen Tschechen und Sudetendeutschen trieb dann schließlich Henlein in Adolf Hitlers Arme, der versprach, ein international vernehmliches Gremium für die Sache der Sudetendeutschen ins Leben zu rufen.De Zayas, Nemesis, 68.
Am 24. April 1938 verkündete die SdP das "Karlsbader Programm", das in acht Punkten die volle Gleichberechtigung mit dem tschechischen Volk forderte.
Der tschechische Präsident Beneš lehnte das Karlsbader Programm ab.
Am 3. August 1938 sandte Großbritannien Lord Viscount Walter Runciman in einer Friedensmission nach Prag. Nach seiner Rückreise nach England wandte Runciman sich in einem Brief an Beneš:
Ich empfinde jedoch starkes Mitgefühl für die Sache der Sudetendeutschen. Es ist ein hartes Los, von einer fremden Rasse beherrscht zu werden, und ich bin den Eindruck nicht losgeworden, dass die tschechoslowakische Herrschaft im Sudetengebiet in den vergangenen 20 Jahren zwar nicht aktiv bedrückend und sicherlich nicht 'terroristisch' war, aber doch gekennzeichnet wurde von Taktlosigkeit, Mangel an Verständnis, kleinen Unduldsamkeiten und Diskriminierungen, und das alles in einem Maß, dass der Groll der deutschen Bevölkerung unvermeidlich zur Revolte drängte...Zitat Runicman, zitiert nach: De Zayas, Nemesis, 69.
4. Das Münchener Abkommen vom 29. September 1938
So wie Runciman drängte auch die Mehrheit der westlichen Politiker darauf, die Tschechen zu überreden, dass Sudetenland zu räumen, da Hitler bereits mit dem Zündholz bereit stand und die Gefahr bestand, dass das gesamte tschechoslowakische Pulverfass in die Luft flog.
Das Münchener Abkommen von 1938 schien, wenn auch nicht die beste, so doch eine annehmbare Lösung zu bieten, die mit Erleichterung vom Großteil der Presse in Frankreich und Großbritannien begrüßt wurde. De Zayas, Nemesis, 71.
Heiner Timmermann von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena schreibt in einem Resümee, dass das Münchener Abkommen als eine "Großmächteregelung" zu betrachten ist, das im Interesse der Erhaltung des Friedens gerechtfertigt war.
In München erklärte Chamberlain, "die tschechische Frage sei eine europäische Frage, und die Großmächte hätten, sie zu lösen, nicht nur durch das Recht, sondern auch die Pflicht. Sie hätten auch dafür zu sorgen, dass die Tschechische Regierung nicht aus Unvernunft und Hartnäckigkeit die Räumung ablehne. Er habe den Wunsch, die Autorität der Großmächte in der richtigen Weise anzuwenden."Timmermann, München, 149.
Am 30. September 1938 wurde mit dem Abschluss der "Münchener Konferenz" das Sudetenland an das Deutsche Reich abgetreten. Ein internationaler Ausschuss sollte die Gebiete mit "vorwiegend deutschem Charakter" feststellen und die neue Grenze festlegen. Nunmehr überstürzten sich die Ereignisse.
Am selben Tag noch überreichte die polnische Regierung Prag ein Ultimatum und annektierte im Alleingang den überwiegend polnisch besiedelten tschechischen Industriebezirk "Teschen" (Olsa-Gebiet). 400.000 Tschechen schob Polen in die Tschechoslowakei, bzw. in das was von ihr übrigblieb, ab.
Am 14. März 1939 schließlich erklärten die Slowaken sich unabhängig von den Tschechen und am 15. März besetzte Hitler die "Resttschechei". Damit begann Hitler eine große politische Dummheit. Das Münchener Abkommen, das Hitler ohnehin quasi "erpresst" hatte, stand nämlich für die anschließende Garantierung der Grenze der Tschechoslowakei ein.
Diese Wendung der Dinge weckte natürlich in England und Frankreich berechtigte Entrüstung. Schließlich hafteten beide Länder nach München mit ihrer Ehre für die Grenzen der Rest-Tschechoslowakei.De Zayas, Nemesis, 73.
Jindrich Dejmek vom Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften in Prag betont, dass Beneš sich nicht an das "Münchener Diktat" gebunden fühlte und dessen "rechtlichen Liquidation" oberste Priorität einräumte.
Obwohl der neue britische Premier Winston Churchill schon Ende September 1940, als sich "München" zum zweiten Male jährte, öffentlich sagte, dass das Münchner Abkommen die Nazis selbst vernichteten, dauerte es noch fast weitere zwei Jahre, bevor die tschechoslowakische Exilregierung ihr Ziel erreichte.Dejmek, München, 145.
5. Der Zweite Weltkrieg und die Vertreibung der Sudetendeutschen
In dem Abschnitt "Der Zweite Weltkrieg und die Vertreibung" in dem Kapitel "Die Deutschen in der Tschechoslowakei" wird Dr. de Zayas nicht müde zu betonen, dass es keine Vertreibung der Sudetendeutschen ohne den "Friedensvertrag von St.-Germain" gegeben hätte:
Selbst nach Hitlers Verletzung des Münchener Abkommens durch die illegale Besetzung Böhmens und Mährens wiederholte Neville Chamberlain am 17. März 1939 in einer Rede zu Birmingham, dass die in den Pariser Verträgen festgelegten Grenzen ungerecht gewesen seien.De Zayas, Nemesis, 75.
Nichtsdestotrotz begann Beneš bereits zwei Monate nach dem Münchener Abkommen im Dezember 1938 in der Öffentlichkeit dessen Revidierung zu fordern - in Verbindung mit einer Ausweisung der "deutschen Minderheit"!
Beneš wird später diese unmenschliche Entwurzelung eines ganzen Volkes gegenüber dem öffentlichen Bewusstsein damit rechtfertigen, dass er die Sudetendeutschen als "Verräter des tschechischen Staates" titulierte:
Als eine Vergeltung für Naziverbrechen wie sie z. B. in Lidice verübt wurden, wo nach der Ermordung des "stellvertretenden Reichsprotektors in Böhmen und Mähren", Reinhard Heydrich, durch tschechische Nationalisten, alle 186 männlichen Einwohner von Lidice erschossen wurden. Ihre Frauen kamen in Konzentrationslager und die Kinder wurden in ganz Deutschland in Heime und Internierungslager verstreut.
Die Verluste insgesamt auf tschechischer Seite werden gemäß Dr. de Zayas von Historikern unterschiedlich gezählt - je nachdem ob Juden und Zigeuner in die Statistiken integriert werden und ob tschechische oder nichttschechische Quellen berücksichtigt werden. Die offiziellen Zahlen schwanken so zwischen 35.000 und 250.000 Opfern.
Diese Verbrechen und Unmenschlichkeiten, die am tschechischen Volk begangen wurden, sind aber meistens von Angehörigen der SS verübt worden, die zum weitaus größten Teil keine Sudetendeutschen waren.De Zayas, Nemesis, 77.
Leider machte die Erbitterung infolge der zunehmenden Radikalisierung und Eskalation des Zweiten Weltkrieges alle Seiten blind, die Kriegspropaganda und moralischen Diffamierung des Feindes bewirkte eine "Verzerrung der Geschichte" und deutsche Kriegsverbrechen ließen das Mitgefühl mit den Deutschen in der alliierten Öffentlichkeit schwinden.
Am 6. Juli 1942 annullierte schließlich das britische Kabinett entgegen den früheren Aussagen das "Münchener Abkommen" und gab prinzipiell eine Zustimmung zum Transfer von deutschen Minderheiten in Mittel- und Südosteuropa nach Deutschland. (Vgl. Perzi, Vertreibung, 228.)
Am 27. Oktober hetzte Beneš in einer Rundfunkrede an das tschechische Volk:
In unserem Land wird das Ende des Krieges mit Blut geschrieben werden. Den Deutschen wird erbarmungslos und vielfach alles vergolten werden, was sie in unserem Land seit 1938 begangen haben.De Zayas, Nemesis, 80.
Über 3 Millionen Sudetendeutsche mussten letztlich mit Ende des Zweiten Weltkrieges ihre angestammte Heimat verlassen. Sieben Jahrhunderte deutschen Wirkens in Böhmen, Mähren und im österreichischen Schlesien wurden radikal ausgelöscht.
Damit endete eine Geschichtsperiode, während der die europäische Kultur durch unvergessliche Werke von sudetendeutschen Dichtern, Denkern, Erfindern und Unternehmern bereichert wurde.De Zayas, Nemesis, 79.
In schlüssiger Weise widerlegt Dr. de Zayas die Legende von Präsident Beneš, die Sudetendeutschen hätten dem tschechischen Staat "den Dolch in den Rücken gestoßen". Ihre "Illoyalität" gegenüber dem tschechisch dominierten Staat hatte vielmehr zusammen mit der "Illoyalität" der Tschechen gegenüber der deutsch dominierten Doppelmonarchie Österreich-Ungarn eines gemeinsam: Der Wunsch nach Selbstbestimmung.
Der tschechische Präsident Václav Havel stellte im März 1992 rückblickend fest:
Die Abschiebung der Sudetendeutschen in der Nachkriegszeit verurteile ich als Ganzes ... Die Potsdamer Konferenz nahm die laufende Abschiebung als eine Tatsache zur Kenntnis ... Die Initiative jedoch ging nicht von ihr aus.Václav Havel. Zitiert nach: De Zayas, Nemesis, 80.
6. Quellen und weiterführende Hinweise
- Foreign relations of the United States: 1918. Supplement 1, The World War, Bd. 1, Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 1918. [zitiert: FRUS, 1918]
- Foreign relations of the United States: The Paris Peace Conference, Bd. 12, Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 1919. [zitiert: FRUS, Paris]
- Dejmek, Jindrich: Das Münchener Abkommen, in: Timmermann, Heiner (Hg.), Die Beneš-Dekrete. Nackriegsordnung oder ethnische Säuberung: Kann Europa eine Antwort geben?, Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, LIT Verlag, Münster 2005, S. 133-146. [zitiert: Dejmek, München]
- Harna, Josef: Die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei, in: Ebd., S. 101-115. [zitiert: Harna, Minderheit]
- Perzi, Niklas: Der Weg der Vertreibung und Enteignung, in: Ebd., S. 218-243. [zitiert: Perzi, Vertreibung]
- Timmermann, Heiner: Das Münchener Abkommen, in: Ebd., S. 147-161. [zitiert: Timmermann, München]
- Zayas, Alfred Maurice de: Die Nemesis von Potsdam. Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, überarb. u. erweit. Neuauflage, Herbig-Verlag, München, 2005. [zitiert: De Zayas, Nemesis]